Warum, fragt der kleine Bär?

November 23, 2024 - Lesezeit: 4 Minuten

Es ist Ende November, nur drei Tage noch bis zu Deinem Geburtstag. Wie schon vor zwei Jahren werden wir nicht zu Hause sein, sondern an der Nordsee. Ein guter Freund von uns hat Geburtstag, er hat das halbe Jahrhundert erreicht. Dass er am selben Tag Geburtstag hat wie Du, verbindet Euch in besonderer Weise, auch wenn man bedenkt, dass ich vor 22 Jahren hochschwanger in seinen Geburtstag  reingefeiert habe. Auf die Frage, wann ist es denn soweit, habe ich schmunzelnd geanwortet, letzte Woche. Dass ich Dich an diesem Sonntagabend in meinen Armen halten würde, habe ich da noch nicht geahnt.

Nun sind wir wieder auf dem Weg zu ihm und wollen ihn überraschen. Als erstes überrascht uns allerdings das Wetter. Als wir von der Autobahn auf die Landstraße abfahren, fallen dicke Schneeflocken und verwandeln die Welt um uns in ein Winter-Wunderland. Auch wenn das Autofahren auf der eisglatten, schneebedeckten Fahrbahn immer schwieriger wird, finde ich es gleichzeitig wunderschön und magisch. Ich weiß, wärst Du jetzt bei uns, hättest Du auch so empfunden. Vielleicht hätten wir angehalten, Du wärst an meiner Hand durch den Schnee gestapft oder hättest mit Deiner Schwester Mascha versucht, einen Schneemann zu bauen. Ich höre Dich förmlich: Bitte Mama, nur einen ganz kleinen. Natürlich denke ich dabei an Dein jüngeres Ich und muss lächeln, als eine Erinnerung kommt: Du warst, glaub ich, etwa fünf Jahre alt auf dem Spielplatz am Wasserturm, stehst an einer schneebedeckten Bank, wirfst Schnee in die Luft und rufst "Frau Holle". Oh da fällt mir gleich noch etwas ein, zum 70. Geburtstag Deiner Großtante im Januar 2010 gab es so viel Schnee, dass Du mit Deinen Cousinen im Garten des Hotels, in dem wir gefeiert haben, einen richtig großen Schneemann gebaut hast. Anschließend habt ihr Euch in den Schnee gelegt und Schneeengel gemacht. Ihr hattet so viel Spaß dabei. Ansonsten waren solch winterliche Wetterverhältnisse für Dich und uns schwierig. Es war schon eine Herausforderung,  Dich in deinem Rollstuhl inklusive der Medizintechnik durch den Schneematsch Berlins zu kutschieren. Zudem warst Du im Herbst und Winter viel öfter krank. Deine ohnehin belastete Lunge wurde durch die kalte Luft zusätzlich strapaziert. Also hieß es oft, zu Hause einkuscheln, viel Inhalieren und dabei vorlesen oder später selbst lesen. Das mochtest Du am liebsten, viel lieber als fernsehen.

Wenn ich manchmal versuche, mir Dich als Erwachsene vorzustellen, denke ich, Du wärst eine Leseratte, ein richtiger Bücherwurm.  Die Geschichten von Petterson und Findus sind für mich immer mit Dir verbunden. Ich bin gerade in Gedanken versunken, da erwähnt Micha ein ganz anderes Buch: "Warum, fragt der kleine Bär?" haben wir Dir auch oft vorgelesen. Ein Buch über einen Bärenvater, der seinem neugierigen Bärenkind die Welt erklärt, zum Beispiel warum die Sonne nicht etwa untergeht, sondern die Erde sich dreht und vieles mehr. Die Geschichten waren so wunderschön erzählt und verständlich. Mir kommt der Gedanke, dass der eine oder andere Erwachsene heute dieses Buch auch mal zur Hand nehmen sollte. Warum fragt der kleine Bär nicht mal nach dem Klimawandel, denke ich. Das wäre bestimmt lehrreich, aber das ist ein ganz anderes Thema. Dabei weiß ich genau, Du würdest mitdiskutieren, nicht leise sein. Du warst immer sehr präsent und ich glaube, dass Du Deine Meinung und Ansichten deutlich vertreten hättest. Unbewusst formt sich die Frage in meinem Kopf: "Warum, fragt der kleine Bär, bist Du nicht mehr hier?". Auch wenn ich weiß, warum, habe ich in jedem Jahr zumindest für einen Moment den Wunsch, das Bedürfnis, Deinen Geburtstag noch einmal mit Dir feiern zu können. Und wie in jedem Jahr sind diese Zeilen an Dich ein Versuch, Dir nahe zu sein.  Und so wünsche ich Dir wie jedes Jahr: Happy Birthday, liebe Johanna, heute scheinen die Sonne, der Mond und die Sterne nur für dich. In Liebe Mama

About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.