An den Landungsbrücken raus

November 23, 2022 - Lesezeit: 4 Minuten

Es ist erstaunlich, dass die Dinge sich manchmal ganz anders entwickeln, wenn man Zeit hat. Dein Geburtstag fällt eigentlich in eine hektische Zeit, auf Arbeit steht der Jahresabschluss an, zu Hause beginnen langsam die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit. Nun habe ich in diesem Jahr ausnahmsweise einmal Urlaub, eine ganze Woche sogar und wir sind tatsächlich weggefahren, unsere Freunde an der Nordsee besuchen. Aber es fällt mir trotzdem schwer, die Ruhe zu finden, um meine Zeilen an Dich zu schreiben, aber hab Geduld mit mir, das wird schon. Unser Urlaub hat schon mal gut angefangen. Wir waren am Sonntag in Tonder (Dänemark) auf einem Weihnachtsmarkt. Neben den üblichen Büdchen gab es dort aber auch eine sehr spezielle Apotheke "det Gamle Apotek",  in einem Eckhaus am Markplatz. Die alten Doppelkastenfenster waren üppig dekoriert, aber die richtige Überraschung erwartet den Besucher drinnen. Denn neben Kräutern, Salben und Teemischungen war der Laden über drei Etagen bis in die Dachkammern gefüllt mit allerlei Dekorativem. Passend zur Jahreszeit gab es natürlich viel Weihnachtliches, Kerzen in allen Formen und Farben, Geschirr und lustige Tassen aus Keramik und zahlreiche Figuren, vor allem natürlich Wichtel, denn die Scandinavier haben ja ein spezielles Verhältnis zur magischen Welt. Als ich so durch den Laden ging, der immer verwinkelter wurde, musste ich sofort an Dich denken, denn gerade die Wichtel mit ihren tief ins Gesicht gezogenen Mützen - nur die Nase schaut heraus - sahen unglaublich lustig aus. Da fiel es sehr schwer, sich zu entscheiden. Ganz oben in einer der Dachkammern habe ich ihn dann gefunden, mit seinem verschmitzten Lächeln blickt er ein bisschen frech in die Runde und ich wusste sofort, der ist es. Du musst Dich allerdings ein wenig gedulden mit der "Lieferung", denn wir kommen erst am Freitag nach Deinem Geburtstag zurück.

Am Montag sind wir dann nach Hamburg gefahren und tatsächlich an den Landungsbrücken raus. Du wirst genau wissen, was damit gemeint ist und auch ich habe sofort das Lied von Kettcar im Ohr. Den Song haben wir gehört, als wir in Hamburg von der Autobahn abfuhren, und dann wurde lauthals "An den Landungsbrücken raus" mitgesungen. Ich schnappe mir meine Kopfhörer, um ihn noch einmal zu hören und frage mich, wie viel ihr davon verstanden habt. "Wollt ich leben und sterben wie ein Toastbrot im Regen" hört sich isoliert betrachtet sehr seltsam an. Für mich ist heute vor allem eine Textzeile sehr präsent: "Die Erinnerungssplitter liegen herum, ich tret´rein" und bin im Sommer 2010, als wir gemeinsam im Kinderhospiz Sternenbrücke  Urlaub gemacht haben. Es war nur eine Woche, aber die war - zumindest nach meiner Erinnerung - sehr ereignisreich. Als erstes muss ich an unseren Besuch in der Miniaturenwelt denken und genau das ist der Grund, warum ich in diesem Jahr noch einmal dorthin wollte. Gut 12 Jahre später muss ich allerdings feststellen, dass mir nur wenig bekannt vorkommt. Es mag sein, dass viele neue "Welten" gebaut worden sind, aber ich bin überrascht, dass ich nicht einmal mehr weiß, welches Länder oder Orte in "Mini" wir mit euch damals angeschaut haben. Aber ich weiß noch genau, wie begeistert ihr wart, als es plötzlich "Nacht" wurde und die beleuchteten Züge herumfuhren. Ich erinnere mich aber auch daran, dass es sehr anstrengend war, mit dem Rollstuhl durch die schmale Gänge zu manövrieren. Die vielen Eindrücke waren irgendwann zu viel für Dich und auch für Deine Schwester. Wir haben wohl nur einen  Bruchteil der Ausstellung gesehen und sind dann raus in die Sonne am Hafen entlang spaziert. Das Wetter war sommerlich warm und es gab ja auch große Schiffe zu bestaunen. Du warst ja damals schon begeistert von Piraten. Es war übrigens der einzige Ausflug in die Stadt, den wir gemacht haben.  Wir haben ansonsten  viel Zeit im Hospiz verbracht. Der große Garten mit Wasserspielplatz hatte es Dir angetan und auch im Spielzimmer drinnen konntest Du Dich gemeinsam mit Mascha stundenlang beschäftigen. Teilweise war für Dich eine 1:1 Betreuung durch eine Krankenschwester gewährleistet, was bedeutete, dass wir Dich eben nicht rund um die Uhr im Auge behalten mussten. Da blieb dann auch für uns Zeit zum lesen und zum entspannen. Das brauchten wir auch, denn 2010 war auch das Jahr, in dem Du wieder in Therapie musstest. Du hattest bereits Deine ersten Infusionen einer neuartigen experimentellen Antikörpertherapie bekommen und gut vertragen. Gemeinsam mit unserem Onkologen verschoben wir den nächsten Zyklus so, dass wir wenigstens eine Woche nach Hamburg fahren konnten. Es war ohnehin sehr schwer gewesen, hier einen Platz zu bekommen. Wir haben diese Auszeit sehr genossen und viele unglaublich schöne Erinnerungen mitgenommen und nicht nur das, auch die Walflossenskulptur und das Seepferdchen sind hier entstanden und nun - Erinnerungssplitter, was für ein seltsames Wort, aber es beschreibt so zutreffend dieses Gefühl, so schmerzhaft und schön und so bin ich wieder an den Landungsbrücken raus mit Dir in meinem Herzen. Happy Birthday, Johchen, Morgen ist Dein 20. Geburtstag und die Sonne, der Mond und die Sterne scheinen nur für Dich.

About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.