Immer wenn ich von Dir erzähle ...

August 8, 2023 - Lesezeit: 5 Minuten

"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen". Heute wurde mir bewusst, dass dieser Spruch kein leere Phrase ist, sondern  erstaunlicherweise stimmt. Draußen regnete es in Strömen, aber im Herzen fühle ich Sonnenstrahlen, als ich von Dir erzähle und auch Fotos zeige - so ausführlich wie lange nicht, denn die junge Frau, sie ist etwa so alt wie Du heute wärst, kannte Deine Geschichte noch nicht, hat nachgefragt, sich interessiert und ich glaube, es ist mir gelungen, ein lebhaftes Bild von Dir zu zeichnen.

Ich hab ihr erzählt, wie alles angefangen hat. Wie man den Tumor fand und Du nach der Operation nichts mehr konntest, nicht sprechen, Dich nicht bewegen, alles war einmal auf Anfang gesetzt. Aber schon einige Monate später hast Du in der Reha in einem Buch "gelesen", jedenfalls fragte die Nachtschwester uns eines Tages, ob Du schon lesen könntest. Sie haben Dir wohl über die Schulter geschaut und festgestellt, dass Du den Text von "Bobo Siebenschläfer" wortgenau wiedergegeben hast. Wir haben herzlich gelacht und  dann erklärt, dass wir Dir dieses Buch schon auf der Intensivstation so oft vorgelesen hatten, dass Du es wohl auswendig konntest. Gerade sprachlich hast Du Dich damals mit knapp zwei Jahren rasant entwickelt, der motorische Teil war da schon schwieriger. Dann kam der Moment, als klar wurde, dass der Tumor in Deinem Kopf wieder gewachsen ist und Du  zur Chemotherapie musstest. Ein Rückschlag, zumal wir die Reha dafür abbrechen mussten, in der Du große Fortschritte gemacht hast. Die folgenden anderthalb Jahre hatten Höhen und Tiefen, aber ich hab den Fokus auf die guten Momente gelegt. Zum Beispiel auf Deinen 3. Geburtstag, den wir im Kinderhospiz Sonnenhof richtig gefeiert haben und auch Dein erstes Mal zu Hause zu Weihnachen. Was war das für eine Aufregung, ich hab gerade die Fotos durchgeschaut. Das sieht ein bisschen so aus, als wollten wir auswandern. Die ganze Technik und die Materialien für Deine Versorgung wie Absaugkatheter, Kompressen, sterile Handschuhe usw., was wir hier vergessen, gibt es nicht zu kaufen. Dein Zimmer zu Hause war ja schon vorbereitet. Wir hatten ein Pflegebett bekommen und uns einen Schlafsessel vom "Schweden" gekauft. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, den habe ich definitiv gebraucht, denn viel Schlaf habe ich nicht bekommen, wir hatten über 20 Monitoralarme in der Nacht, weil Du  halt öfters "vergessen" hattest zu atmen. Aber Du bei uns zu Hause, zusammen mit Deiner Schwester gemeinsam beim Malen, Spielen und Lachen, immer wieder dieses herzhafte Lachen und Kichern von Euch beiden, das ist die schönste Erinnerung.

Ich hab auch erzählt, wie wir Dich dann endlich ganz nach Hause geholt haben, nach dem Ende der Therapie. Wie wir es genossen haben, wieder eine Familie zu sein. Man konnte zuschauen, wie Du aufgeblüht bist.  Du konntest in den Kindergarten gehen, bist eingeschult worden, hast schließlich Lesen gelernt und all das in Deiner unnachahmlichen Weise, voller  Lebensfreude.  Mir sind auch die Wortspiele eingefallen, die wir so gerne gespielt haben. Jedes Wort musste  mit demselben Konsonanten beginnen, den wir zuvor ausgesucht haben. Wir haben oft so doll lachen müssen, bis uns der Bauch weh tat. Und dann sind da die Momente, in denen man morgens beim Frühstück sass und sich im Stillen darüber gefreut hat, dass wir alle zusammen waren, kein Familienmitglied im Krankenhaus, das ist schon viel wert. Ich hab auch von Mascha und Dir erzählt, dass ihr ein Herz und eine Seele wart und wie lieb sie sich immer um Dich gekümmert hat. Am Wochenende ging sie als erste in Dein Zimmer, sobald sie Dich gehört hat, hat Dir Spielzeug in Dein Bett gegeben und dann habt ihr fröhlich gequasselt und gespielt, bis ich reingekommen bin und Dir den Sauerstoffschlauch abgenommen habe, damit Du Dich beim Spielen nicht verhedderst. Aber ich erinnere mich auch daran, dass Du einmal Deine Arme in die Seite gestemmt hast und zu mir gesagt hast: "Mama, Du sollst nicht mit Mascha schimpfen". Ihr wart einfach ein unzertrennliches Team.

Und dann unser letzter gemeinsamer Urlaub im Allgäu, im Kinderhospiz St. Nikolaus, einfach wunderschön. So viele schöne Erlebnisse. Wir waren im Schongauer Märchenwald und dort bist Du stolz auf einem Pony geritten, ganz langsam zwar und das Pferd war an der Leine, aber Du hast alleine im Sattel gesessen, das erste Mal - ich hab Dich nur ein bisschen an der Seite festgehalten. Du bist auch das erste Mal seit Deiner OP im Schwimmbad gewesen, wenn auch mit Unterstützung des Therapeuten, aber Du bist "geschwommen" - das hattest Du Dir schon lange gewünscht. Die Fahrt auf dem roten Traktor war sicherlich auch sehr aufregend, manchmal wünsche ich mir, ich könnte Dich fragen, wie das für Dich war. Ich möchte so oft etwas fragen können, wissen wie Du darüber denkst, wie Du das erlebt hast und ich weiß ich kann es nicht. Denn am 9. August 2011 bist Du gegangen und damit schließt sich der Kreis, aber es ist nicht das Ende, denn:

"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen, unsere Herzen halten Dich gefangen, so als wärst Du nie gegangen."

Das wird für immer so sein, Deine Mama.


An den Landungsbrücken raus

November 23, 2022 - Lesezeit: 4 Minuten

Es ist erstaunlich, dass die Dinge sich manchmal ganz anders entwickeln, wenn man Zeit hat. Dein Geburtstag fällt eigentlich in eine hektische Zeit, auf Arbeit steht der Jahresabschluss an, zu Hause beginnen langsam die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit. Nun habe ich in diesem Jahr ausnahmsweise einmal Urlaub, eine ganze Woche sogar und wir sind tatsächlich weggefahren, unsere Freunde an der Nordsee besuchen. Aber es fällt mir trotzdem schwer, die Ruhe zu finden, um meine Zeilen an Dich zu schreiben, aber hab Geduld mit mir, das wird schon. Unser Urlaub hat schon mal gut angefangen. Wir waren am Sonntag in Tonder (Dänemark) auf einem Weihnachtsmarkt. Neben den üblichen Büdchen gab es dort aber auch eine sehr spezielle Apotheke "det Gamle Apotek",  in einem Eckhaus am Markplatz. Die alten Doppelkastenfenster waren üppig dekoriert, aber die richtige Überraschung erwartet den Besucher drinnen. Denn neben Kräutern, Salben und Teemischungen war der Laden über drei Etagen bis in die Dachkammern gefüllt mit allerlei Dekorativem. Passend zur Jahreszeit gab es natürlich viel Weihnachtliches, Kerzen in allen Formen und Farben, Geschirr und lustige Tassen aus Keramik und zahlreiche Figuren, vor allem natürlich Wichtel, denn die Scandinavier haben ja ein spezielles Verhältnis zur magischen Welt. Als ich so durch den Laden ging, der immer verwinkelter wurde, musste ich sofort an Dich denken, denn gerade die Wichtel mit ihren tief ins Gesicht gezogenen Mützen - nur die Nase schaut heraus - sahen unglaublich lustig aus. Da fiel es sehr schwer, sich zu entscheiden. Ganz oben in einer der Dachkammern habe ich ihn dann gefunden, mit seinem verschmitzten Lächeln blickt er ein bisschen frech in die Runde und ich wusste sofort, der ist es. Du musst Dich allerdings ein wenig gedulden mit der "Lieferung", denn wir kommen erst am Freitag nach Deinem Geburtstag zurück.

Am Montag sind wir dann nach Hamburg gefahren und tatsächlich an den Landungsbrücken raus. Du wirst genau wissen, was damit gemeint ist und auch ich habe sofort das Lied von Kettcar im Ohr. Den Song haben wir gehört, als wir in Hamburg von der Autobahn abfuhren, und dann wurde lauthals "An den Landungsbrücken raus" mitgesungen. Ich schnappe mir meine Kopfhörer, um ihn noch einmal zu hören und frage mich, wie viel ihr davon verstanden habt. "Wollt ich leben und sterben wie ein Toastbrot im Regen" hört sich isoliert betrachtet sehr seltsam an. Für mich ist heute vor allem eine Textzeile sehr präsent: "Die Erinnerungssplitter liegen herum, ich tret´rein" und bin im Sommer 2010, als wir gemeinsam im Kinderhospiz Sternenbrücke  Urlaub gemacht haben. Es war nur eine Woche, aber die war - zumindest nach meiner Erinnerung - sehr ereignisreich. Als erstes muss ich an unseren Besuch in der Miniaturenwelt denken und genau das ist der Grund, warum ich in diesem Jahr noch einmal dorthin wollte. Gut 12 Jahre später muss ich allerdings feststellen, dass mir nur wenig bekannt vorkommt. Es mag sein, dass viele neue "Welten" gebaut worden sind, aber ich bin überrascht, dass ich nicht einmal mehr weiß, welches Länder oder Orte in "Mini" wir mit euch damals angeschaut haben. Aber ich weiß noch genau, wie begeistert ihr wart, als es plötzlich "Nacht" wurde und die beleuchteten Züge herumfuhren. Ich erinnere mich aber auch daran, dass es sehr anstrengend war, mit dem Rollstuhl durch die schmale Gänge zu manövrieren. Die vielen Eindrücke waren irgendwann zu viel für Dich und auch für Deine Schwester. Wir haben wohl nur einen  Bruchteil der Ausstellung gesehen und sind dann raus in die Sonne am Hafen entlang spaziert. Das Wetter war sommerlich warm und es gab ja auch große Schiffe zu bestaunen. Du warst ja damals schon begeistert von Piraten. Es war übrigens der einzige Ausflug in die Stadt, den wir gemacht haben.  Wir haben ansonsten  viel Zeit im Hospiz verbracht. Der große Garten mit Wasserspielplatz hatte es Dir angetan und auch im Spielzimmer drinnen konntest Du Dich gemeinsam mit Mascha stundenlang beschäftigen. Teilweise war für Dich eine 1:1 Betreuung durch eine Krankenschwester gewährleistet, was bedeutete, dass wir Dich eben nicht rund um die Uhr im Auge behalten mussten. Da blieb dann auch für uns Zeit zum lesen und zum entspannen. Das brauchten wir auch, denn 2010 war auch das Jahr, in dem Du wieder in Therapie musstest. Du hattest bereits Deine ersten Infusionen einer neuartigen experimentellen Antikörpertherapie bekommen und gut vertragen. Gemeinsam mit unserem Onkologen verschoben wir den nächsten Zyklus so, dass wir wenigstens eine Woche nach Hamburg fahren konnten. Es war ohnehin sehr schwer gewesen, hier einen Platz zu bekommen. Wir haben diese Auszeit sehr genossen und viele unglaublich schöne Erinnerungen mitgenommen und nicht nur das, auch die Walflossenskulptur und das Seepferdchen sind hier entstanden und nun - Erinnerungssplitter, was für ein seltsames Wort, aber es beschreibt so zutreffend dieses Gefühl, so schmerzhaft und schön und so bin ich wieder an den Landungsbrücken raus mit Dir in meinem Herzen. Happy Birthday, Johchen, Morgen ist Dein 20. Geburtstag und die Sonne, der Mond und die Sterne scheinen nur für Dich.


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Und morgen wärst Du 19

November 23, 2021 - Lesezeit: 4 Minuten

Der Abend vor Deinem Geburtstag und meine Gedanken kreisen um Dich, wie immer in dieser Zeit. Die letzten Tage waren grau und trübe, selbst am Totensonntag konnte man kaum die Sonne sehen. Der Friedhof aber war voller Menschen, die an ihre Liebsten gedacht haben. Das fand ich schön, und Mascha auch. Auch Dein Grab war wie immer bunt mit Heide bepflanzt und dazu die vielen kleinen Figuren, die wir Dir immer wieder bringen. Am Sonntag ist der Elefant von der Sendung mit Maus dazugekommen und ein Elf. Das passt nicht für eine 19jährige, aber das Thema hatten wir schon mal. Du bist nun einmal nur achteinhalb Jahre bei uns gewesen und ich weiß leider nicht, was Deinem 19jährigen Ich gefallen würde.

Hier zu Hause warten nun der kleine Maulwurf und ein Teddy mit Herzchen darauf, dass sie morgen zum Friedhof gebracht werden, ein bißchen lahm, ich weiß. Aber erinnerst Du Dich an die Geschichte vom kleinen Maulwurf und seiner Hose mit den großen Taschen, die hast Du geliebt - so wie ich als Kind übrigens auch. Neulich haben wir an einer Raststätte eine Dekoecke mit einem riesigen kleinen Maulwurf gesehen. Ich musste das sofort fotografieren und Deiner Schwester schicken. Sie fand es auch so süss und beide haben wir sofort an Dich gedacht. Diese Momente sind pures Glück für mich, weil ich das Gefühl habe, dass ich Dir dann nah sein kann, für einen winzigen Augenblick. Deshalb und vielleicht auch weil es deprimierend ist, dass das große C unser Land wieder fest im Griff hat, habe ich in diesem Jahr schon am Totensonntag die Adventsdekoration herausgeholt. Am Balkon leuchtet eine neue Lichterkette, der Schwibbogen steht am Fenster und natürlich habe ich die Krippe, die Pyramiden und Räuchermänner, die bei uns nicht räuchern dürfen, hingestellt. Ich habe das seit Euren Kindertagen zelebriert, wir haben abends die Pyramidenkerzen angemacht, das Zimmer war dunkel und ihr habt die sich drehenden Figuren bestaunt. Und dann, weißt Du noch Johanna, haben wir oft eine Weihnachts-CD angemacht, Rolf Zuckowski zum Beispiel mit "In der Weihnachtsbäckerei" und ihr habt lauthals mitgesungen und getanzt. Und natürlich durften Petterson und Findus nicht fehlen, der alte Mann und der lustige Kater waren Deine Helden. Die Welt da draußen konnte uns dann egal sein, der Krebs, die Klinik und Therapie waren für einen Moment vergessen. Diese stimmungsvolle Zeit war Balsam für die Seele und das Herz, und ich denke und hoffe, das war auch für Dich so. Genau das wollte ich uns dieses Jahr wieder ins Haus holen und es gelingt mir, zumindest ein bißchen.

Morgen, liebe Johanna, an Deinem 19. Geburtstag wollen wir gemeinsam eines Deiner Lieblingsgerichte kochen, Nudeln mit Lachs und Spinat. Das war immer lecker, stimmts? An der Nordsee hattest Du allerdings einmal so leckeren Fisch - entschuldige, ich korrigiere, Du isst ja keinen Fisch nur Lachs, hihi - dass Dein Gehirn damit offensichtlich überfordert war. Der Krampfanfall, der darauf folgte, war natürlich mit Atemstillstand - im vollbesetzten Restaurant eine nicht ganz einfache Situation, die wir glücklicherweise recht schnell in den Griff bekamen. Wir waren da halt schon geübte Intensivkind-Eltern. Aber danach haben wir immer ein besonderes Auge auf Dich gehabt, wenn es Lachs gab. Trotzdem hast Du ihn wirklich gern gegessen, aber solche Episoden prägen sich halt ein. Ist schon komisch, dass es mir das gerade jetzt wieder einfällt.

Ich hab auch Deine Engel aufgestellt. Du hast nur 8 davon selbst gesehen, denn jedes Weihnachten haben meine Eltern, Deine Großeltern, Dir einen geschenkt. Du solltest an Deinem 18. Geburtstag eine kleine Engelskapelle haben, genau wie Deine Schwester - Deine erste Advents-Ausstattung aus dem Erzgebirge, da hat Dein Opa seine Wurzeln. Morgen wäre Dein 19. Geburtstag und nun habe ich die Kapelle. Es sind nur 17 Engel -  einer ist wohl verloren gegangen beim Umzug in unser neues altes Haus. Das erscheint mir passend, vielleicht ist er ja bei Dir gelandet. Du bist uns jedenfalls nicht verloren gegangen, Du bist immer bei uns, in unseren Gedanken und in unseren Herzen und das wird immer so sein. Happy Birthday Johanna, in Liebe Deine Mama.


Die Zeit, ein Leben und die Erinnerung

August 9, 2021 - Lesezeit: 5 Minuten

Es ist nicht gestern gewesen, aber dass es schon 10 Jahre her ist, kann ich kaum fassen. Die Zeit fliegt dahin, die Erde dreht sich weiter und ich erinnere mich genau, heute vor 10 Jahren wollte ich, dass alles stillsteht, weil das für uns Unfassbare geschehen war. Damals wie heute weiß ich, dass so viele unfassbare Dinge geschehen und das Leben trotzdem ungerührt weitergeht. Mir fällt noch ein, was ich im Jahr darauf gedacht habe: Ich wollte ein Buch schreiben über Dich, Deine Geschichte der Welt erzählen oder zumindest jenen, die sie hören wollen. In 10 Jahren schaffe ich das, habe ich gedacht. Dann kam das Leben, wie immer, und heute gibt es kein Buch sondern nur diesen Blog, der aber ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Er hat seinen Platz an diesen besonderen Tagen des Jahres, einer davon ist heute, der Tag, an dem Du zu den Sternen gegangen bist.

Aber wie jedes Jahr soll es bei diesen Zeilen nicht darum gehen, sondern um Dein Leben, Deine Zeit bei uns, die einfach intensiv war. So waren wir vor kurzem in unserem alten Kiez, sind durch den Volkspark Friedrichshain gelaufen, vorbei am Märchenbrunnen, an den Spielplätzen und haben uns erinnert. Wie oft sind wir mit dem Reha-Buggy und später mit dem Rollstuhl mit Dir und Deiner Schwester dort gewesen. Das war schon ein Tagesausflug, denn der Weg von unserer Wohnung an der Prenzlauer Allee war zu Fuß recht weit. Da musste man schon alles dabei haben, zu essen und zu trinken und natürlich auch die Medizintechnik mit im Gepäck. Soweit ich mich erinnere, haben wir das gern bei schönem Sommerwetter gemacht und meist nicht nur einen, sondern beide großen Spielplätze nacheinander besucht und natürlich den Märchenbrunnen. Der war nicht immer mit Wasser gefüllt, aber wenn das Wasserspiel an war, war es besonders schön. Die Spielplätze sehen heute natürlich anders aus, nach 10 Jahren ist das wohl auch nicht überraschend. Trotzdem konnte ich Dich vor mir sehen, wie Du über den Spielplatz läufst in Deiner unnachahmlichen Art zu gehen, immer leicht schwankend. Man dachte, Du fällst gleich, aber das bist Du nicht, zumindest nicht so oft. Ich erinnere mich auch an den Sommer 2010, da hatten wir ein Babyplanschbecken auf dem Balkon aufgestellt. Es gibt sehr lustige Fotos von Dir und Deiner Schwester. Mit einem coolen Seitenzopf und im Bikini - irgendwo muss man ja den Hickman-Katheter verstecken - standest Du mit Mascha unter einem Minisonnenschirm und ihr habt Faxen gemacht. Ich glaube, in diesem Sommer war es zeitweise sehr heiß und Hitze ist Dir nie so gut bekommen, so dass wir nur kurze Ausflüge gemacht haben und sonst lieber drinnen geblieben sind. Aber langweilig war Euch nie. Später im August sind wir dann für eine Woche in das Kinderhospiz Sternenbrücke nach Hamburg gefahren. Da war es schon nicht mehr so heiß, aber trotzdem sehr schön. Wir haben Ausflüge in die Stadt gemacht, uns zum Beispiel die Eisenbahn-Miniaturenwelt angesehen. In der Sternenbrücke gab es natürlich ein gut ausgestattetes Spielzimmer, indem Du viel Zeit verbracht hast. Auch der Gartenbereich mit Wasser- und Matschecke hatte es Dir angetan. Es gab auch einmal Besuch von einem mannsgroßen Teddybären "Bear Emy", vor dem Du - anders als viele andere Kinder - natürlich keine Angst hattest. Vielleicht hast Du es Dir auch nicht anmerken lassen, jedenfalls hast Du mit ihm rumgealbert und -getobt. Es war einfach herrlich zu sehen, wie viel Spass Du hattest. An einem Nachmittag gab es sogar ein Konzert dort. Es spielte ein lokale Band, an ihren Namen erinnere ich mich nicht, aber daran, wie schön es war, mit anderen auf der Wiese zu sitzen und Musik zu hören. Ich weiß gar nicht, ob Deine Schwester sich noch daran erinnern kann, aber das war eigentlich Euer erstes Freiluftkonzert und Du wie immer mittendrin, vorn an der "Bühne" wolltest Du unbedingt mittanzen. 

Es gibt noch etwas Besonderes, was wir aus Hamburg mitgenommen haben. Für uns Eltern gab es einen Kurs bei einem Steinmetz. Dort konnten wir aus Speckstein eine Skulptur herstellen. Das Motiv hat sich jeder selbst überlegt, ich hatte mich für eine Walfischflosse entschieden, bei Micha war es ein Seepferdchen. Wir haben jeweils ein Modell aus Ton geformt, nach dessen Vorbild der Steinmetz den Rohling gefertigt hat. Den Feinschliff haben wir dann wieder selbstgemacht. Seit neuestem haben die Walflosse und das Seepferdchen nun einen neuen Platz im Bad gefunden, doch egal wo in unserem Haus die Skulpturen standen, sie sind untrennbar mit Dir verbunden. Ich denke, dass es die Idee des Kurses war, eine solche Erinnerung zu schaffen und bin immer wieder erstaunt, dass es auch genau so funktioniert, auch heute noch. Man fühlt den Stein und sieht Dich vor sich, in dieser Zeit, holt Dich für einen Moment zurück und hat ein Lächeln auf dem Gesicht.

Es ist ein bißchen so wie mit Deinem Bild, dass Du im Jahr darauf im Kinderhospiz St. Nikolaus im Allgäu gemalt hast. Das hängt bei uns im Wohnzimmer, die Farben so kräftig und leuchtend wie vor 10 Jahren. Auf dem Bild hinter Museumsglas scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und ein Blick darauf genügt und Du bist hier bei uns und bleibst - für immer in unserer Erinnerung.


About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.