Ob das Vergessen unvermeidlich ist

August 8, 2022 - Lesezeit: 7 Minuten

Diesmal beginne ich mit einem Zitat aus "Das Schicksal ist ein mieser Verräter": "Ich weiß, dass Liebe nichts als ein Ruf in die Wüste ist und das Vergessen unvermeidlich ist." Erst kürzlich habe ich mir den Film wieder einmal angesehen, kenne natürlich auch das Buch. Es hat mich damals viel Überwindung gekostet, den Roman zu lesen, im Jahr nach Deinem Tod. Aber die Geschichte dieser beiden jungen Menschen, deren Schicksal Deinem so ähnlich ist, hat mich tief berührt, eben auch weil sie kein Happy End hat. Trotzdem ist so viel Leben darin und der Wille, sich dem "Schicksal" in den Weg zu stellen, sich zu holen, was möglich ist und wenn es eine Reise nach Amsterdam ist. Hazel Grace erinnert mich ein wenig an Dich. Was mich zu dem anderen Thema bringt, dem Vergessen. Ist es wirklich unvermeidlich?

Ich weiß, im Alltag kann ich mich nicht in Erinnerungen verlieren, aber wenn ich zur Ruhe komme, allein bin, nehme ich mir manchmal die Zeit, durchsuche ich mein Gedächtnis nach Erlebnissen mit Dir oder eben auch den Computer, um die Erinnerung aufzufrischen. Erst neulich habe ich in alten Videos gestöbert. In unserem ersten Urlaub auf Sylt haben wir recht viel gefilmt. Da sitzen wir z. B. in der Küche unserer Ferienwohnung und essen gemeinsam, es gab Lachs, eines Deiner Lieblingsgerichte. Schon im Kinderhospiz Sonnenhof hast Du das gern gegessen. Dabei hast Du erklärt, "Ich esse keinen Fisch, ich esse nur Lachs." Genau diesen Spruch hatte ich in dieser Filmaufnahme rausgekitzelt, wollte ihn unbedingt festhalten. Ich sehe diese bewegten Bilder und frage mich, wieso wir das nicht immer  gemacht haben. Warum haben wir nicht alles festgehalten, die ganzen 8 1/2 Jahre, wo wir doch wussten, dass es endlich ist? Zeitgleich ist mir bewusst, dass das nicht möglich und auch sinnlos ist. Mit einer Kamera vor der Nase ist man nicht dabei, nicht wirklich. Man nimmt den Moment nicht im ganzen war, sondern erlebt ihn mit Distanz. Ich muss an die "Japaner" mit ihrer Knipserei denken, ganz Europa in 7 Tagen, klick klick klick. Die werden sich nur erinnern, wenn sie die Fotos sehen. Nein, das ist keine Lösung, auch wenn ich mir manchmal wünsche, wir hätten noch mehr "Material". Du mochtest die Filmerei ohnehin nie. Also bleibt mir nur die echte Erinnerung, mit den Geschichten von Dir, die sich eingeprägt haben, wie ein helles Licht in der Dunkelheit, meine Brücke zu Dir.

Und an Tagen, wie diesen hole ich diese Erinnerungen hervor, wie einen Schatz. Welche wird es diesmal sein? Vielleicht der erste Geburtstag, den wir wieder richtig feiern konnten, fast ein Jahr nach der OP. Du bist drei Jahre alt geworden. Gefeiert haben wir noch nicht zu Hause, sondern im Kinderhospiz Sonnenhof, mit Oma und Opa und Oma (mein Vater war leider nicht Berlin), natürlich Deiner Schwester Mascha und gute Freunde von uns waren mit ihrer Tochter Luca da. Es wurde ein richtiger Kindergeburtstag, mit Kuchen und Süßigkeiten und natürlich vielen Geschenken, schließlich musste der 2. Geburtstag - damals lagst Du frisch operiert auf der Intensivstation - irgendwie nachgeholt werden. Ihr habt vieles ausprobiert, miteinander gespielt und natürlich getobt. Du konntest Dich damals gerade wieder so auf allen Vieren bewegen, aber Mascha und Luca sind einfach mit Dir um die Wette gekrabbelt, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich glaube, an diesem Tag gab es nichts, was unser Glück getrübt hat. Für einen Moment war alles andere vergessen.

Anfang Dezember haben wir geheiratet und es war bis kurz vorher nicht klar, ob Du dabei sein kannst, denn seit der OP bist Du immer mit dem Krankenwagen transportiert worden. Keine Ahnung, ob man einen Krankenwagen für die Teilnahme an einer Trauung bekommt -  wohl eher nicht. Aber die Pflegedienstleitung hat Dich mit einem  Pkw gerade noch rechtzeitig gebracht. Ich erinnere mich noch deutlich, wie sehr wir uns gefreut haben, als Du endlich ankamst. Ich glaube nicht, dass es für dich so wichtig war, aber unseren Tag hat es perfekt gemacht. Meine Eltern hatten einen Fotografen engagiert, der über ein Jahr nach der OP nun endlich wieder Bilder von uns gemeinsam als Familie gemacht hat. Diese Aufnahmen schaue ich mir immer wieder gern an, sie sind einfach unbezahlbar. Zwei Jahre später haben wir Dich dann endlich zu uns nach Hause holen können und damit begannen, zumindest nach meiner Erinnerung, Deine besten Jahre. Ob Du das auch so empfunden hast? Ich hoffe es sehr. Wir wurden wieder eine richtige Familie. Natürlich war es anfangs nicht einfach, in den Alltag zu finden, der immer noch vollgepackt war  mit medizinisch notwendiger Pflege, Therapie- und Arztterminen. Von nun an 8 Stunden am Tag und 8 Stunden in der Nacht Pflegepersonal in der Wohnung zu haben, war auch eine Umstellung. Aber wir waren dankbar für die Unterstützung und vor allem den Nachtschlaf, den wir ohne Schwestern/Pfleger nicht bekommen hätten. Aber so nach und nach kehrte "unsere Normalität" ein. Wenn wir keinen Frühdienst da hatten, hab ich den Nachdienst verabschiedet und dann die Wohnzimmertür aufgemacht, damit ich den Monitoralarm höre. Am Wochenende war Mascha immer als erstes bei Dir, hat Dir Spielzeug mitgebracht und ihr habt gequasselt und gespielt. Meist bin ich kurz aufgestanden, um den Sauerstoffschlauch abzunehmen, damit Du Dich beim Spielen im Bett nicht verhedderst. Dann noch kurz dösen, bis es wirklich Zeit wurde für das Morgenprogramm. Meist stand neben der Morgenwäsche noch Inhalieren an und mit Waschen, Anziehen, Verbandswechsel und Stomapflege, konnte da schon mal eine Stunde ins Land gehen. Am Wochenende dann zu viert am Frühstückstisch sitzen, haben wir jedes Mal genossen, denn das war nicht selbstverständlich und ich bin froh, dass wir das auch damals so wahrgenommen haben. Unser Ausflüge zum Spielplatz, mal lang, mal kurz, wurden Teil dieser neuen Normalität. Wenn ich es so recht bedenke, haben wir nichts Spektakuläres gemacht. Hin und wieder mal einen Ausflug in den Tierpark, in den Zoo, Karls Erdbeerhof haben wir auch besucht, nichts besonderes halt, aber wir haben Dich nicht in Watte gepackt. Du durftest im Dreck wühlen, Dir auch mal eine Schramme holen, hingefallen bist Du am Tag gefühlt 100mal - gut man war immer unmittelbar neben Dir, weil da war ja auch noch das Problem mit der Atmung, die plötzlich aussetzen konnte oder ein Krampfanfall, der Dich außer Gefecht setzt. Aber es war uns wichtig, dass Du so normal wie möglich leben kannst, trotz oder gerade wegen Deiner Erkrankung. Heute bin ich so froh, dass wir das so gemacht haben. Ich hoffe irgendwie, dass Du das auch so siehst. Madmoiselle 1000Volt hat unser Onkologe Dich einmal genannt. Er hätte es nicht besser ausdrücken können. Du warst ein so lebensfrohes Kind, voller Power, zumindest in den Zeiten, in den Du gesund warst - bis auf den Tumor in Deinem Kopf. Ich glaube, wärst Du so alt geworden wie Hazel Grace, wärst Du auch nach Amsterdam gefahren - oder nach Paris oder sonstwo hin. Du hättest Deinen Kopf durchgesetzt. Doch das Schicksal ist ein mieser Verräter - aber das Vergessen ist nicht unvermeidlich. Das weiß ich einfach, denn in weiteren 10 Jahren werde ich mich immer noch erinnern. In Liebe Deine Mama


About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.