Wir haben August und es ist Sommer - endlich. Er hat sich ein paar Wochen Zeit gelassen, aber nun ist er da. Nach einem heißen und anstrengendem Tag im Büro, sitze ich nun hier, um zu schreiben. Auch wenn ich jeden Tag an Dich denke, bleibt im Alltag keine Zeit, um die Gedanken auf das Papier bringen - oder wie in meinem Fall in diesem Blog niederzuschreiben. Ich schaffe es nur zweimal im Jahr, aber das ist nicht schlimm. Um so wichtiger sind mir diese Zeilen. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie uns Jahr für Jahr immer wieder Dinge begegnen, die uns an Dich erinnern. Dieses Jahr, dieser Sommer ist da keine Ausnahme. Es ist nicht überraschend, dass wir ihn im Urlaub haben, einen Johanna-Moment. Wir waren wieder in Schweden, diesmal nicht mit dem Wohnmobil, sondern mit unserem Berlingo. Eine selbstgebaute Campingbox im Auto zum Schlafen reicht und die Heckküche um zu kochen. Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Wir sind viel draußen in der Natur, genießen die Ruhe beim Radfahren oder auch mit dem Paddelboot. Keine Verpflichtungen oder Termine. Aber ein paar Sehenswürdigkeiten wollen wir doch sehen, bevor es wieder zurückgeht und so findet Micha das Johanna Museet in Skurup. Ein Johanna-Museum, das müssen wir uns ansehen.
Dort angekommen erwartet uns eine von außen recht unscheinbar aussehende Scheune mit Anbau. Als wir sie betreten, kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Alte Fahrräder aus dem 18. und 19. Jahrhundert, darunter einige noch aus Holz, stehen neben Oldtimern, alten Tanksäulen und vielen anderen Gegenständen, ein Sammelsurium der Geschichte. Werkstätten mit fein säuberlich aufgehängten Werkzeugen aus einer Zeit, in der es weder Akkuschrauber noch Stichsäge gab, sondern noch alles Handarbeit war. Dieser Ort ist so voller Leben, dass ich mir unwillkürlich vorstelle, wie Du staunend durch die Räume läufst und uns Löcher in den Bauch fragst. Telefone von den Anfängen der Telefonie, als Hörer und Sprechmuschel noch getrennt waren, ordentlich aufgereiht und beschriftet. Ein altes Telefon mit Wählscheibe ist sogar funktionsfähig. Wir sehen, wie ein Junge, vielleicht 7 oder 8 Jahre alt, wählt und ein paar Apparate weiter klingelt es. Ein älterer Mann geht dran, wohl sein Opa und ich muss lächeln, als ich sehe, wie viel Spaß sie haben. Wir haben nicht herausgefunden, warum das Museum so heißt, aber wie es scheint, ist diese Sammlung ein Familienprojekt und vielleicht war ja eine Johanna darunter. Ich kann mir vorstellen, dass ihr euch gut verstanden hättet - wenn man die Sprachbarriere mal vergisst. Für uns ist es Dein Museum, oder vielleicht auch nur eine Erinnerung, die Du uns geschickt hast. Ich muss schmunzeln und suche nach dem nächsten Johanna-Moment, über den wir gestolpert sind. Der überrascht uns im Kino, wir schauen die Vorschau und neben Erwachsenenfilmen werden auch Vorstellungen für Kinder angezeigt. Lars, der Eisbär, Der kleine Drache Kokosnuss - kommt Dir das bekannt vor - und Laura´s Stern. Prompt sagt Micha, weißt Du noch, da waren wir mit den Kindern das erste Mal im Kino. Keine 10 Minuten nach Beginn des Films wollte Johanna raus, es war alles zu viel, zu laut, zu dramatisch. Wir lachen beide, als wir uns erinnern. Wir haben das Experiment abgebrochen und sind nach Hause gegangen. Bücher waren wohl doch die bessere Alternative, die hast Du geliebt, wobei ich gar nicht weiß, ob Du nach diesem Erlebnis noch einmal Laura´s Stern lesen wolltest. Mit den Geschichten von Lars Eisbär verbinde ich eine sehr intensive Erinnerung. Diese Hörbücher gehörten zu Deinen liebsten, bevor man den Tumor entdeckt hat, Du warst noch keine zwei Jahre alt. Wir haben sie bei Autofahrten und auch zu Hause ständig gehört. Als Du nach der Narkose für das MRT im Krankenhaus aufgewacht bist, hast Du als erstes nach Lars Eisbär verlangt. Ich habe die Kassette angemacht - damals hatten wir noch Kassetten - und Du bist wieder eingeschlafen. In den Wochen nach der Operation, in denen Du in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen gefangen warst, war das eine der Geschichten, die wir immer wieder abgespielt haben in der Hoffnung, dass Du zu uns zurückkommen kannst, dass Du aufwachst. Und Du bist aufgewacht und dieser Gedanke zaubert wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Du wolltest weitere Geschichten hören, Du wollest eigene erfinden, Du wolltest die Johanna werden, die Du bis zum Schluss gewesen bist. Ein fröhliches, temperamentvolles Kind, neugierig auf die Welt, mit unerschöpflicher Phantasie. Das ist das, was bleibt, das was mich lächeln lässt, auch wenn ich traurig bin, dass Du nicht mehr da bist. Ich hoffe und wünsche mir immer wieder einen Johanna-Moment, der mich lächeln lässt.
Heute war es den ganzen Tag grau und regnerisch, ein Wetter zum sich verkriechen. Der Blick auf die Wetter-App zeigt, morgen wird es auch nicht besser, aber morgen ist Dein Geburtstag. Ich möchte die trüben Gedanken vertreiben, setze mich an den Laptop und scrolle durch unsere Bildergalerie. Ich suche nach schönen Tagen im Herbst und finde Bilder von 2008. Wir waren auf einer Halloween-Party bei unserem Pflegedienst, Du und Deine Schwester sind als Hexen verkleidet und sogar geschminkt. Auf dem nächsten Bild sieht man Deinen kritischen Blick in den Spiegel - das war wohl zu viel Schminke für Deinen Geschmack, Du guckst schon sehr finster und ich muss lachen. Na dann schauen wir mal, was ich noch finde. Ein Jahr zuvor haben wir zusammen mit Oma und Opa einen Ausflug in den Tierpark gemacht. Du hast sichtlich Spass im Streichelzoo bei den Ziegen und Schafen, obwohl Du auch ordentlich Respekt hattest, denn viel größer als die Vierbeiner bist Du nicht und in diesem Jahr zwar schon laufend unterwegs, aber brauchst noch immer eine Hand, die Dich hält. Ich erinnere mich auch ohne Fotos gut an diesen Ausflug. Es war zwar auch kalt und windig, aber ein wunderschöner Tag, den wir als Familie sehr genossen haben.
Ich schaue weiter und lande im Jahr 2006, sehe Dich ohne deine roten Locken. Das war eine schwierige Zeit, voller Krisen, aber ich möchte bei den schönen Tagen bleiben und suche weiter. Das Jahr 2009 - Dein 7. Geburtstag ist der erste, den Du als Schulkind gefeiert hast. Dein Pflegebett ist mit einer Piraten-Geburtstags-Girlande geschmückt, denn Deine Vorliebe für Antihelden war da schon sehr ausgeprägt. Im Bett ordentlich aufgereiht sitzen der kleine König, die Prinzessin und all Deine Puppen. Da ist auch Paul, die Babypuppe - Du hattest Dir unbedingt einen Jungen gewünscht und ihn an diesem Tag bekommen. In der Ecke gleich neben dem Pferd Greta sitzt Malte, Dein Plüschdinosaurier und auch zu dem gibt es eine Geschichte. Malte ist eigentlich ein Junge aus einem Buch, der ziemlich frech und ungezogen ist. Die Sternenschaukel war eines Deiner Lieblingsbücher, wir haben oft daraus vorgelesen. Irgendwann hast Du Deinen Dino dann Malte getauft, offensichtlich war er wohl auch frech - zumindest in Deiner Phantasie. Ein paar Fotos weiter sieht man Dich tief schlafend in Deinem Bett. Du warst den ganzen Tag so aufgedreht und glücklich, dass es Dich am Abend regelrecht umgehauen hat. Von einem Moment auf den anderen war Stille. Als ich das sah, musste ich es unbedingt fotografieren. So wie ich jetzt weitergehen muss, zum nächsten Jahr. Vom November habe ich hier nur wenig Fotos, in dem Jahr hattest Du Dir die Windpocken eingefangen, ein kurzer Klinikaufenthalt war notwendig und danach warst Du noch eine ganze Weile sehr geschwächt. Deinen Geburtstag haben wir daher ganz ruhig gefeiert mit Oma und Opa bei uns zu Hause. Da ist ein Foto von Deinem Geburtstagstisch. In dem Jahr hast Du Deine Kochschürze bekommen und und Deine Uroma hatte Dir Pulswärmer genäht. Du sahst sehr lustig aus mit der Kochschürze und den Pulswärmern an den Händen, wolltest aber beides den ganzen Nachmittag und Abend anbehalten. Bei dem kalten Wetter heute wären die Pulswärmer eigentlich keine schlechte Idee, aber ich glaube, wir haben die nicht mehr, aber das Buch "Eine Geburtstagstorte für die Katze", das Du auch zu Deinem 8. Geburtstag bekommen hast, das haben wir noch und damit schließt sich der Kreis. Die Geschichten von Petterson und Findus sind für uns so fest mit Dir verbunden. Ich hole das Buch aus dem Schrank und blättere darin. Sofort fällt mir ein, dass wir genau wegen dieser Geschichte zu Deinem Geburtstag ein paar Jahre später versucht haben, eine Eierkuchentorte zu backen. Das ist genau wie im Buch mehr oder weniger gut gelungen, aber darauf kam es nicht an, denn seit 2011 mussten wir Deinen Geburtstag ohne Dich feiern und da war es einfach schön, Dir auf diese Art nah zu sein. Findus hat inzwischen auch seinen festen Platz auf Deinem Grab. Er sitzt auf einem Stein und schaut aus, als würde er jeden Augenblick eine von seinen phantastischen Ideen haben. Um ihn herum blüht die Heide, bunt und schön. Morgen werden ein paar kleine lustige Schneemänner dazukommen und ich glaube, Deine Schwester hat auch eine Überraschung für Dich besorgt. Und morgen Abend werden wir wohl gemeinsam noch einmal "Eine Geburtstagstorte für die Katze" lesen und so bei Dir sein. Diesmal gibts wohl keine Sonne hier unten, aber Du siehst bestimmt die Sonne strahlen, und der Mond und die Sterne scheinen nur für Dich. Happy Birthday, liebe Johanna, in Liebe Mama
"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen". Heute wurde mir bewusst, dass dieser Spruch kein leere Phrase ist, sondern erstaunlicherweise stimmt. Draußen regnete es in Strömen, aber im Herzen fühle ich Sonnenstrahlen, als ich von Dir erzähle und auch Fotos zeige - so ausführlich wie lange nicht, denn die junge Frau, sie ist etwa so alt wie Du heute wärst, kannte Deine Geschichte noch nicht, hat nachgefragt, sich interessiert und ich glaube, es ist mir gelungen, ein lebhaftes Bild von Dir zu zeichnen.
Ich hab ihr erzählt, wie alles angefangen hat. Wie man den Tumor fand und Du nach der Operation nichts mehr konntest, nicht sprechen, Dich nicht bewegen, alles war einmal auf Anfang gesetzt. Aber schon einige Monate später hast Du in der Reha in einem Buch "gelesen", jedenfalls fragte die Nachtschwester uns eines Tages, ob Du schon lesen könntest. Sie haben Dir wohl über die Schulter geschaut und festgestellt, dass Du den Text von "Bobo Siebenschläfer" wortgenau wiedergegeben hast. Wir haben herzlich gelacht und dann erklärt, dass wir Dir dieses Buch schon auf der Intensivstation so oft vorgelesen hatten, dass Du es wohl auswendig konntest. Gerade sprachlich hast Du Dich damals mit knapp zwei Jahren rasant entwickelt, der motorische Teil war da schon schwieriger. Dann kam der Moment, als klar wurde, dass der Tumor in Deinem Kopf wieder gewachsen ist und Du zur Chemotherapie musstest. Ein Rückschlag, zumal wir die Reha dafür abbrechen mussten, in der Du große Fortschritte gemacht hast. Die folgenden anderthalb Jahre hatten Höhen und Tiefen, aber ich hab den Fokus auf die guten Momente gelegt. Zum Beispiel auf Deinen 3. Geburtstag, den wir im Kinderhospiz Sonnenhof richtig gefeiert haben und auch Dein erstes Mal zu Hause zu Weihnachen. Was war das für eine Aufregung, ich hab gerade die Fotos durchgeschaut. Das sieht ein bisschen so aus, als wollten wir auswandern. Die ganze Technik und die Materialien für Deine Versorgung wie Absaugkatheter, Kompressen, sterile Handschuhe usw., was wir hier vergessen, gibt es nicht zu kaufen. Dein Zimmer zu Hause war ja schon vorbereitet. Wir hatten ein Pflegebett bekommen und uns einen Schlafsessel vom "Schweden" gekauft. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, den habe ich definitiv gebraucht, denn viel Schlaf habe ich nicht bekommen, wir hatten über 20 Monitoralarme in der Nacht, weil Du halt öfters "vergessen" hattest zu atmen. Aber Du bei uns zu Hause, zusammen mit Deiner Schwester gemeinsam beim Malen, Spielen und Lachen, immer wieder dieses herzhafte Lachen und Kichern von Euch beiden, das ist die schönste Erinnerung.
Ich hab auch erzählt, wie wir Dich dann endlich ganz nach Hause geholt haben, nach dem Ende der Therapie. Wie wir es genossen haben, wieder eine Familie zu sein. Man konnte zuschauen, wie Du aufgeblüht bist. Du konntest in den Kindergarten gehen, bist eingeschult worden, hast schließlich Lesen gelernt und all das in Deiner unnachahmlichen Weise, voller Lebensfreude. Mir sind auch die Wortspiele eingefallen, die wir so gerne gespielt haben. Jedes Wort musste mit demselben Konsonanten beginnen, den wir zuvor ausgesucht haben. Wir haben oft so doll lachen müssen, bis uns der Bauch weh tat. Und dann sind da die Momente, in denen man morgens beim Frühstück sass und sich im Stillen darüber gefreut hat, dass wir alle zusammen waren, kein Familienmitglied im Krankenhaus, das ist schon viel wert. Ich hab auch von Mascha und Dir erzählt, dass ihr ein Herz und eine Seele wart und wie lieb sie sich immer um Dich gekümmert hat. Am Wochenende ging sie als erste in Dein Zimmer, sobald sie Dich gehört hat, hat Dir Spielzeug in Dein Bett gegeben und dann habt ihr fröhlich gequasselt und gespielt, bis ich reingekommen bin und Dir den Sauerstoffschlauch abgenommen habe, damit Du Dich beim Spielen nicht verhedderst. Aber ich erinnere mich auch daran, dass Du einmal Deine Arme in die Seite gestemmt hast und zu mir gesagt hast: "Mama, Du sollst nicht mit Mascha schimpfen". Ihr wart einfach ein unzertrennliches Team.
Und dann unser letzter gemeinsamer Urlaub im Allgäu, im Kinderhospiz St. Nikolaus, einfach wunderschön. So viele schöne Erlebnisse. Wir waren im Schongauer Märchenwald und dort bist Du stolz auf einem Pony geritten, ganz langsam zwar und das Pferd war an der Leine, aber Du hast alleine im Sattel gesessen, das erste Mal - ich hab Dich nur ein bisschen an der Seite festgehalten. Du bist auch das erste Mal seit Deiner OP im Schwimmbad gewesen, wenn auch mit Unterstützung des Therapeuten, aber Du bist "geschwommen" - das hattest Du Dir schon lange gewünscht. Die Fahrt auf dem roten Traktor war sicherlich auch sehr aufregend, manchmal wünsche ich mir, ich könnte Dich fragen, wie das für Dich war. Ich möchte so oft etwas fragen können, wissen wie Du darüber denkst, wie Du das erlebt hast und ich weiß ich kann es nicht. Denn am 9. August 2011 bist Du gegangen und damit schließt sich der Kreis, aber es ist nicht das Ende, denn:
"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen, unsere Herzen halten Dich gefangen, so als wärst Du nie gegangen."
Das wird für immer so sein, Deine Mama.
Diesmal beginne ich mit einem Zitat aus "Das Schicksal ist ein mieser Verräter": "Ich weiß, dass Liebe nichts als ein Ruf in die Wüste ist und das Vergessen unvermeidlich ist." Erst kürzlich habe ich mir den Film wieder einmal angesehen, kenne natürlich auch das Buch. Es hat mich damals viel Überwindung gekostet, den Roman zu lesen, im Jahr nach Deinem Tod. Aber die Geschichte dieser beiden jungen Menschen, deren Schicksal Deinem so ähnlich ist, hat mich tief berührt, eben auch weil sie kein Happy End hat. Trotzdem ist so viel Leben darin und der Wille, sich dem "Schicksal" in den Weg zu stellen, sich zu holen, was möglich ist und wenn es eine Reise nach Amsterdam ist. Hazel Grace erinnert mich ein wenig an Dich. Was mich zu dem anderen Thema bringt, dem Vergessen. Ist es wirklich unvermeidlich?
Ich weiß, im Alltag kann ich mich nicht in Erinnerungen verlieren, aber wenn ich zur Ruhe komme, allein bin, nehme ich mir manchmal die Zeit, durchsuche ich mein Gedächtnis nach Erlebnissen mit Dir oder eben auch den Computer, um die Erinnerung aufzufrischen. Erst neulich habe ich in alten Videos gestöbert. In unserem ersten Urlaub auf Sylt haben wir recht viel gefilmt. Da sitzen wir z. B. in der Küche unserer Ferienwohnung und essen gemeinsam, es gab Lachs, eines Deiner Lieblingsgerichte. Schon im Kinderhospiz Sonnenhof hast Du das gern gegessen. Dabei hast Du erklärt, "Ich esse keinen Fisch, ich esse nur Lachs." Genau diesen Spruch hatte ich in dieser Filmaufnahme rausgekitzelt, wollte ihn unbedingt festhalten. Ich sehe diese bewegten Bilder und frage mich, wieso wir das nicht immer gemacht haben. Warum haben wir nicht alles festgehalten, die ganzen 8 1/2 Jahre, wo wir doch wussten, dass es endlich ist? Zeitgleich ist mir bewusst, dass das nicht möglich und auch sinnlos ist. Mit einer Kamera vor der Nase ist man nicht dabei, nicht wirklich. Man nimmt den Moment nicht im ganzen war, sondern erlebt ihn mit Distanz. Ich muss an die "Japaner" mit ihrer Knipserei denken, ganz Europa in 7 Tagen, klick klick klick. Die werden sich nur erinnern, wenn sie die Fotos sehen. Nein, das ist keine Lösung, auch wenn ich mir manchmal wünsche, wir hätten noch mehr "Material". Du mochtest die Filmerei ohnehin nie. Also bleibt mir nur die echte Erinnerung, mit den Geschichten von Dir, die sich eingeprägt haben, wie ein helles Licht in der Dunkelheit, meine Brücke zu Dir.
Und an Tagen, wie diesen hole ich diese Erinnerungen hervor, wie einen Schatz. Welche wird es diesmal sein? Vielleicht der erste Geburtstag, den wir wieder richtig feiern konnten, fast ein Jahr nach der OP. Du bist drei Jahre alt geworden. Gefeiert haben wir noch nicht zu Hause, sondern im Kinderhospiz Sonnenhof, mit Oma und Opa und Oma (mein Vater war leider nicht Berlin), natürlich Deiner Schwester Mascha und gute Freunde von uns waren mit ihrer Tochter Luca da. Es wurde ein richtiger Kindergeburtstag, mit Kuchen und Süßigkeiten und natürlich vielen Geschenken, schließlich musste der 2. Geburtstag - damals lagst Du frisch operiert auf der Intensivstation - irgendwie nachgeholt werden. Ihr habt vieles ausprobiert, miteinander gespielt und natürlich getobt. Du konntest Dich damals gerade wieder so auf allen Vieren bewegen, aber Mascha und Luca sind einfach mit Dir um die Wette gekrabbelt, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich glaube, an diesem Tag gab es nichts, was unser Glück getrübt hat. Für einen Moment war alles andere vergessen.
Anfang Dezember haben wir geheiratet und es war bis kurz vorher nicht klar, ob Du dabei sein kannst, denn seit der OP bist Du immer mit dem Krankenwagen transportiert worden. Keine Ahnung, ob man einen Krankenwagen für die Teilnahme an einer Trauung bekommt - wohl eher nicht. Aber die Pflegedienstleitung hat Dich mit einem Pkw gerade noch rechtzeitig gebracht. Ich erinnere mich noch deutlich, wie sehr wir uns gefreut haben, als Du endlich ankamst. Ich glaube nicht, dass es für dich so wichtig war, aber unseren Tag hat es perfekt gemacht. Meine Eltern hatten einen Fotografen engagiert, der über ein Jahr nach der OP nun endlich wieder Bilder von uns gemeinsam als Familie gemacht hat. Diese Aufnahmen schaue ich mir immer wieder gern an, sie sind einfach unbezahlbar. Zwei Jahre später haben wir Dich dann endlich zu uns nach Hause holen können und damit begannen, zumindest nach meiner Erinnerung, Deine besten Jahre. Ob Du das auch so empfunden hast? Ich hoffe es sehr. Wir wurden wieder eine richtige Familie. Natürlich war es anfangs nicht einfach, in den Alltag zu finden, der immer noch vollgepackt war mit medizinisch notwendiger Pflege, Therapie- und Arztterminen. Von nun an 8 Stunden am Tag und 8 Stunden in der Nacht Pflegepersonal in der Wohnung zu haben, war auch eine Umstellung. Aber wir waren dankbar für die Unterstützung und vor allem den Nachtschlaf, den wir ohne Schwestern/Pfleger nicht bekommen hätten. Aber so nach und nach kehrte "unsere Normalität" ein. Wenn wir keinen Frühdienst da hatten, hab ich den Nachdienst verabschiedet und dann die Wohnzimmertür aufgemacht, damit ich den Monitoralarm höre. Am Wochenende war Mascha immer als erstes bei Dir, hat Dir Spielzeug mitgebracht und ihr habt gequasselt und gespielt. Meist bin ich kurz aufgestanden, um den Sauerstoffschlauch abzunehmen, damit Du Dich beim Spielen im Bett nicht verhedderst. Dann noch kurz dösen, bis es wirklich Zeit wurde für das Morgenprogramm. Meist stand neben der Morgenwäsche noch Inhalieren an und mit Waschen, Anziehen, Verbandswechsel und Stomapflege, konnte da schon mal eine Stunde ins Land gehen. Am Wochenende dann zu viert am Frühstückstisch sitzen, haben wir jedes Mal genossen, denn das war nicht selbstverständlich und ich bin froh, dass wir das auch damals so wahrgenommen haben. Unser Ausflüge zum Spielplatz, mal lang, mal kurz, wurden Teil dieser neuen Normalität. Wenn ich es so recht bedenke, haben wir nichts Spektakuläres gemacht. Hin und wieder mal einen Ausflug in den Tierpark, in den Zoo, Karls Erdbeerhof haben wir auch besucht, nichts besonderes halt, aber wir haben Dich nicht in Watte gepackt. Du durftest im Dreck wühlen, Dir auch mal eine Schramme holen, hingefallen bist Du am Tag gefühlt 100mal - gut man war immer unmittelbar neben Dir, weil da war ja auch noch das Problem mit der Atmung, die plötzlich aussetzen konnte oder ein Krampfanfall, der Dich außer Gefecht setzt. Aber es war uns wichtig, dass Du so normal wie möglich leben kannst, trotz oder gerade wegen Deiner Erkrankung. Heute bin ich so froh, dass wir das so gemacht haben. Ich hoffe irgendwie, dass Du das auch so siehst. Madmoiselle 1000Volt hat unser Onkologe Dich einmal genannt. Er hätte es nicht besser ausdrücken können. Du warst ein so lebensfrohes Kind, voller Power, zumindest in den Zeiten, in den Du gesund warst - bis auf den Tumor in Deinem Kopf. Ich glaube, wärst Du so alt geworden wie Hazel Grace, wärst Du auch nach Amsterdam gefahren - oder nach Paris oder sonstwo hin. Du hättest Deinen Kopf durchgesetzt. Doch das Schicksal ist ein mieser Verräter - aber das Vergessen ist nicht unvermeidlich. Das weiß ich einfach, denn in weiteren 10 Jahren werde ich mich immer noch erinnern. In Liebe Deine Mama