"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen". Heute wurde mir bewusst, dass dieser Spruch kein leere Phrase ist, sondern erstaunlicherweise stimmt. Draußen regnete es in Strömen, aber im Herzen fühle ich Sonnenstrahlen, als ich von Dir erzähle und auch Fotos zeige - so ausführlich wie lange nicht, denn die junge Frau, sie ist etwa so alt wie Du heute wärst, kannte Deine Geschichte noch nicht, hat nachgefragt, sich interessiert und ich glaube, es ist mir gelungen, ein lebhaftes Bild von Dir zu zeichnen.
Ich hab ihr erzählt, wie alles angefangen hat. Wie man den Tumor fand und Du nach der Operation nichts mehr konntest, nicht sprechen, Dich nicht bewegen, alles war einmal auf Anfang gesetzt. Aber schon einige Monate später hast Du in der Reha in einem Buch "gelesen", jedenfalls fragte die Nachtschwester uns eines Tages, ob Du schon lesen könntest. Sie haben Dir wohl über die Schulter geschaut und festgestellt, dass Du den Text von "Bobo Siebenschläfer" wortgenau wiedergegeben hast. Wir haben herzlich gelacht und dann erklärt, dass wir Dir dieses Buch schon auf der Intensivstation so oft vorgelesen hatten, dass Du es wohl auswendig konntest. Gerade sprachlich hast Du Dich damals mit knapp zwei Jahren rasant entwickelt, der motorische Teil war da schon schwieriger. Dann kam der Moment, als klar wurde, dass der Tumor in Deinem Kopf wieder gewachsen ist und Du zur Chemotherapie musstest. Ein Rückschlag, zumal wir die Reha dafür abbrechen mussten, in der Du große Fortschritte gemacht hast. Die folgenden anderthalb Jahre hatten Höhen und Tiefen, aber ich hab den Fokus auf die guten Momente gelegt. Zum Beispiel auf Deinen 3. Geburtstag, den wir im Kinderhospiz Sonnenhof richtig gefeiert haben und auch Dein erstes Mal zu Hause zu Weihnachen. Was war das für eine Aufregung, ich hab gerade die Fotos durchgeschaut. Das sieht ein bisschen so aus, als wollten wir auswandern. Die ganze Technik und die Materialien für Deine Versorgung wie Absaugkatheter, Kompressen, sterile Handschuhe usw., was wir hier vergessen, gibt es nicht zu kaufen. Dein Zimmer zu Hause war ja schon vorbereitet. Wir hatten ein Pflegebett bekommen und uns einen Schlafsessel vom "Schweden" gekauft. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, den habe ich definitiv gebraucht, denn viel Schlaf habe ich nicht bekommen, wir hatten über 20 Monitoralarme in der Nacht, weil Du halt öfters "vergessen" hattest zu atmen. Aber Du bei uns zu Hause, zusammen mit Deiner Schwester gemeinsam beim Malen, Spielen und Lachen, immer wieder dieses herzhafte Lachen und Kichern von Euch beiden, das ist die schönste Erinnerung.
Ich hab auch erzählt, wie wir Dich dann endlich ganz nach Hause geholt haben, nach dem Ende der Therapie. Wie wir es genossen haben, wieder eine Familie zu sein. Man konnte zuschauen, wie Du aufgeblüht bist. Du konntest in den Kindergarten gehen, bist eingeschult worden, hast schließlich Lesen gelernt und all das in Deiner unnachahmlichen Weise, voller Lebensfreude. Mir sind auch die Wortspiele eingefallen, die wir so gerne gespielt haben. Jedes Wort musste mit demselben Konsonanten beginnen, den wir zuvor ausgesucht haben. Wir haben oft so doll lachen müssen, bis uns der Bauch weh tat. Und dann sind da die Momente, in denen man morgens beim Frühstück sass und sich im Stillen darüber gefreut hat, dass wir alle zusammen waren, kein Familienmitglied im Krankenhaus, das ist schon viel wert. Ich hab auch von Mascha und Dir erzählt, dass ihr ein Herz und eine Seele wart und wie lieb sie sich immer um Dich gekümmert hat. Am Wochenende ging sie als erste in Dein Zimmer, sobald sie Dich gehört hat, hat Dir Spielzeug in Dein Bett gegeben und dann habt ihr fröhlich gequasselt und gespielt, bis ich reingekommen bin und Dir den Sauerstoffschlauch abgenommen habe, damit Du Dich beim Spielen nicht verhedderst. Aber ich erinnere mich auch daran, dass Du einmal Deine Arme in die Seite gestemmt hast und zu mir gesagt hast: "Mama, Du sollst nicht mit Mascha schimpfen". Ihr wart einfach ein unzertrennliches Team.
Und dann unser letzter gemeinsamer Urlaub im Allgäu, im Kinderhospiz St. Nikolaus, einfach wunderschön. So viele schöne Erlebnisse. Wir waren im Schongauer Märchenwald und dort bist Du stolz auf einem Pony geritten, ganz langsam zwar und das Pferd war an der Leine, aber Du hast alleine im Sattel gesessen, das erste Mal - ich hab Dich nur ein bisschen an der Seite festgehalten. Du bist auch das erste Mal seit Deiner OP im Schwimmbad gewesen, wenn auch mit Unterstützung des Therapeuten, aber Du bist "geschwommen" - das hattest Du Dir schon lange gewünscht. Die Fahrt auf dem roten Traktor war sicherlich auch sehr aufregend, manchmal wünsche ich mir, ich könnte Dich fragen, wie das für Dich war. Ich möchte so oft etwas fragen können, wissen wie Du darüber denkst, wie Du das erlebt hast und ich weiß ich kann es nicht. Denn am 9. August 2011 bist Du gegangen und damit schließt sich der Kreis, aber es ist nicht das Ende, denn:
"Immer wenn wir von Dir erzählen, fallen Sonnenstrahlen auf unsere Seelen, unsere Herzen halten Dich gefangen, so als wärst Du nie gegangen."
Das wird für immer so sein, Deine Mama.
Diesmal beginne ich mit einem Zitat aus "Das Schicksal ist ein mieser Verräter": "Ich weiß, dass Liebe nichts als ein Ruf in die Wüste ist und das Vergessen unvermeidlich ist." Erst kürzlich habe ich mir den Film wieder einmal angesehen, kenne natürlich auch das Buch. Es hat mich damals viel Überwindung gekostet, den Roman zu lesen, im Jahr nach Deinem Tod. Aber die Geschichte dieser beiden jungen Menschen, deren Schicksal Deinem so ähnlich ist, hat mich tief berührt, eben auch weil sie kein Happy End hat. Trotzdem ist so viel Leben darin und der Wille, sich dem "Schicksal" in den Weg zu stellen, sich zu holen, was möglich ist und wenn es eine Reise nach Amsterdam ist. Hazel Grace erinnert mich ein wenig an Dich. Was mich zu dem anderen Thema bringt, dem Vergessen. Ist es wirklich unvermeidlich?
Ich weiß, im Alltag kann ich mich nicht in Erinnerungen verlieren, aber wenn ich zur Ruhe komme, allein bin, nehme ich mir manchmal die Zeit, durchsuche ich mein Gedächtnis nach Erlebnissen mit Dir oder eben auch den Computer, um die Erinnerung aufzufrischen. Erst neulich habe ich in alten Videos gestöbert. In unserem ersten Urlaub auf Sylt haben wir recht viel gefilmt. Da sitzen wir z. B. in der Küche unserer Ferienwohnung und essen gemeinsam, es gab Lachs, eines Deiner Lieblingsgerichte. Schon im Kinderhospiz Sonnenhof hast Du das gern gegessen. Dabei hast Du erklärt, "Ich esse keinen Fisch, ich esse nur Lachs." Genau diesen Spruch hatte ich in dieser Filmaufnahme rausgekitzelt, wollte ihn unbedingt festhalten. Ich sehe diese bewegten Bilder und frage mich, wieso wir das nicht immer gemacht haben. Warum haben wir nicht alles festgehalten, die ganzen 8 1/2 Jahre, wo wir doch wussten, dass es endlich ist? Zeitgleich ist mir bewusst, dass das nicht möglich und auch sinnlos ist. Mit einer Kamera vor der Nase ist man nicht dabei, nicht wirklich. Man nimmt den Moment nicht im ganzen war, sondern erlebt ihn mit Distanz. Ich muss an die "Japaner" mit ihrer Knipserei denken, ganz Europa in 7 Tagen, klick klick klick. Die werden sich nur erinnern, wenn sie die Fotos sehen. Nein, das ist keine Lösung, auch wenn ich mir manchmal wünsche, wir hätten noch mehr "Material". Du mochtest die Filmerei ohnehin nie. Also bleibt mir nur die echte Erinnerung, mit den Geschichten von Dir, die sich eingeprägt haben, wie ein helles Licht in der Dunkelheit, meine Brücke zu Dir.
Und an Tagen, wie diesen hole ich diese Erinnerungen hervor, wie einen Schatz. Welche wird es diesmal sein? Vielleicht der erste Geburtstag, den wir wieder richtig feiern konnten, fast ein Jahr nach der OP. Du bist drei Jahre alt geworden. Gefeiert haben wir noch nicht zu Hause, sondern im Kinderhospiz Sonnenhof, mit Oma und Opa und Oma (mein Vater war leider nicht Berlin), natürlich Deiner Schwester Mascha und gute Freunde von uns waren mit ihrer Tochter Luca da. Es wurde ein richtiger Kindergeburtstag, mit Kuchen und Süßigkeiten und natürlich vielen Geschenken, schließlich musste der 2. Geburtstag - damals lagst Du frisch operiert auf der Intensivstation - irgendwie nachgeholt werden. Ihr habt vieles ausprobiert, miteinander gespielt und natürlich getobt. Du konntest Dich damals gerade wieder so auf allen Vieren bewegen, aber Mascha und Luca sind einfach mit Dir um die Wette gekrabbelt, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich glaube, an diesem Tag gab es nichts, was unser Glück getrübt hat. Für einen Moment war alles andere vergessen.
Anfang Dezember haben wir geheiratet und es war bis kurz vorher nicht klar, ob Du dabei sein kannst, denn seit der OP bist Du immer mit dem Krankenwagen transportiert worden. Keine Ahnung, ob man einen Krankenwagen für die Teilnahme an einer Trauung bekommt - wohl eher nicht. Aber die Pflegedienstleitung hat Dich mit einem Pkw gerade noch rechtzeitig gebracht. Ich erinnere mich noch deutlich, wie sehr wir uns gefreut haben, als Du endlich ankamst. Ich glaube nicht, dass es für dich so wichtig war, aber unseren Tag hat es perfekt gemacht. Meine Eltern hatten einen Fotografen engagiert, der über ein Jahr nach der OP nun endlich wieder Bilder von uns gemeinsam als Familie gemacht hat. Diese Aufnahmen schaue ich mir immer wieder gern an, sie sind einfach unbezahlbar. Zwei Jahre später haben wir Dich dann endlich zu uns nach Hause holen können und damit begannen, zumindest nach meiner Erinnerung, Deine besten Jahre. Ob Du das auch so empfunden hast? Ich hoffe es sehr. Wir wurden wieder eine richtige Familie. Natürlich war es anfangs nicht einfach, in den Alltag zu finden, der immer noch vollgepackt war mit medizinisch notwendiger Pflege, Therapie- und Arztterminen. Von nun an 8 Stunden am Tag und 8 Stunden in der Nacht Pflegepersonal in der Wohnung zu haben, war auch eine Umstellung. Aber wir waren dankbar für die Unterstützung und vor allem den Nachtschlaf, den wir ohne Schwestern/Pfleger nicht bekommen hätten. Aber so nach und nach kehrte "unsere Normalität" ein. Wenn wir keinen Frühdienst da hatten, hab ich den Nachdienst verabschiedet und dann die Wohnzimmertür aufgemacht, damit ich den Monitoralarm höre. Am Wochenende war Mascha immer als erstes bei Dir, hat Dir Spielzeug mitgebracht und ihr habt gequasselt und gespielt. Meist bin ich kurz aufgestanden, um den Sauerstoffschlauch abzunehmen, damit Du Dich beim Spielen im Bett nicht verhedderst. Dann noch kurz dösen, bis es wirklich Zeit wurde für das Morgenprogramm. Meist stand neben der Morgenwäsche noch Inhalieren an und mit Waschen, Anziehen, Verbandswechsel und Stomapflege, konnte da schon mal eine Stunde ins Land gehen. Am Wochenende dann zu viert am Frühstückstisch sitzen, haben wir jedes Mal genossen, denn das war nicht selbstverständlich und ich bin froh, dass wir das auch damals so wahrgenommen haben. Unser Ausflüge zum Spielplatz, mal lang, mal kurz, wurden Teil dieser neuen Normalität. Wenn ich es so recht bedenke, haben wir nichts Spektakuläres gemacht. Hin und wieder mal einen Ausflug in den Tierpark, in den Zoo, Karls Erdbeerhof haben wir auch besucht, nichts besonderes halt, aber wir haben Dich nicht in Watte gepackt. Du durftest im Dreck wühlen, Dir auch mal eine Schramme holen, hingefallen bist Du am Tag gefühlt 100mal - gut man war immer unmittelbar neben Dir, weil da war ja auch noch das Problem mit der Atmung, die plötzlich aussetzen konnte oder ein Krampfanfall, der Dich außer Gefecht setzt. Aber es war uns wichtig, dass Du so normal wie möglich leben kannst, trotz oder gerade wegen Deiner Erkrankung. Heute bin ich so froh, dass wir das so gemacht haben. Ich hoffe irgendwie, dass Du das auch so siehst. Madmoiselle 1000Volt hat unser Onkologe Dich einmal genannt. Er hätte es nicht besser ausdrücken können. Du warst ein so lebensfrohes Kind, voller Power, zumindest in den Zeiten, in den Du gesund warst - bis auf den Tumor in Deinem Kopf. Ich glaube, wärst Du so alt geworden wie Hazel Grace, wärst Du auch nach Amsterdam gefahren - oder nach Paris oder sonstwo hin. Du hättest Deinen Kopf durchgesetzt. Doch das Schicksal ist ein mieser Verräter - aber das Vergessen ist nicht unvermeidlich. Das weiß ich einfach, denn in weiteren 10 Jahren werde ich mich immer noch erinnern. In Liebe Deine Mama