Es ist erstaunlich, dass die Dinge sich manchmal ganz anders entwickeln, wenn man Zeit hat. Dein Geburtstag fällt eigentlich in eine hektische Zeit, auf Arbeit steht der Jahresabschluss an, zu Hause beginnen langsam die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit. Nun habe ich in diesem Jahr ausnahmsweise einmal Urlaub, eine ganze Woche sogar und wir sind tatsächlich weggefahren, unsere Freunde an der Nordsee besuchen. Aber es fällt mir trotzdem schwer, die Ruhe zu finden, um meine Zeilen an Dich zu schreiben, aber hab Geduld mit mir, das wird schon. Unser Urlaub hat schon mal gut angefangen. Wir waren am Sonntag in Tonder (Dänemark) auf einem Weihnachtsmarkt. Neben den üblichen Büdchen gab es dort aber auch eine sehr spezielle Apotheke "det Gamle Apotek", in einem Eckhaus am Markplatz. Die alten Doppelkastenfenster waren üppig dekoriert, aber die richtige Überraschung erwartet den Besucher drinnen. Denn neben Kräutern, Salben und Teemischungen war der Laden über drei Etagen bis in die Dachkammern gefüllt mit allerlei Dekorativem. Passend zur Jahreszeit gab es natürlich viel Weihnachtliches, Kerzen in allen Formen und Farben, Geschirr und lustige Tassen aus Keramik und zahlreiche Figuren, vor allem natürlich Wichtel, denn die Scandinavier haben ja ein spezielles Verhältnis zur magischen Welt. Als ich so durch den Laden ging, der immer verwinkelter wurde, musste ich sofort an Dich denken, denn gerade die Wichtel mit ihren tief ins Gesicht gezogenen Mützen - nur die Nase schaut heraus - sahen unglaublich lustig aus. Da fiel es sehr schwer, sich zu entscheiden. Ganz oben in einer der Dachkammern habe ich ihn dann gefunden, mit seinem verschmitzten Lächeln blickt er ein bisschen frech in die Runde und ich wusste sofort, der ist es. Du musst Dich allerdings ein wenig gedulden mit der "Lieferung", denn wir kommen erst am Freitag nach Deinem Geburtstag zurück.
Am Montag sind wir dann nach Hamburg gefahren und tatsächlich an den Landungsbrücken raus. Du wirst genau wissen, was damit gemeint ist und auch ich habe sofort das Lied von Kettcar im Ohr. Den Song haben wir gehört, als wir in Hamburg von der Autobahn abfuhren, und dann wurde lauthals "An den Landungsbrücken raus" mitgesungen. Ich schnappe mir meine Kopfhörer, um ihn noch einmal zu hören und frage mich, wie viel ihr davon verstanden habt. "Wollt ich leben und sterben wie ein Toastbrot im Regen" hört sich isoliert betrachtet sehr seltsam an. Für mich ist heute vor allem eine Textzeile sehr präsent: "Die Erinnerungssplitter liegen herum, ich tret´rein" und bin im Sommer 2010, als wir gemeinsam im Kinderhospiz Sternenbrücke Urlaub gemacht haben. Es war nur eine Woche, aber die war - zumindest nach meiner Erinnerung - sehr ereignisreich. Als erstes muss ich an unseren Besuch in der Miniaturenwelt denken und genau das ist der Grund, warum ich in diesem Jahr noch einmal dorthin wollte. Gut 12 Jahre später muss ich allerdings feststellen, dass mir nur wenig bekannt vorkommt. Es mag sein, dass viele neue "Welten" gebaut worden sind, aber ich bin überrascht, dass ich nicht einmal mehr weiß, welches Länder oder Orte in "Mini" wir mit euch damals angeschaut haben. Aber ich weiß noch genau, wie begeistert ihr wart, als es plötzlich "Nacht" wurde und die beleuchteten Züge herumfuhren. Ich erinnere mich aber auch daran, dass es sehr anstrengend war, mit dem Rollstuhl durch die schmale Gänge zu manövrieren. Die vielen Eindrücke waren irgendwann zu viel für Dich und auch für Deine Schwester. Wir haben wohl nur einen Bruchteil der Ausstellung gesehen und sind dann raus in die Sonne am Hafen entlang spaziert. Das Wetter war sommerlich warm und es gab ja auch große Schiffe zu bestaunen. Du warst ja damals schon begeistert von Piraten. Es war übrigens der einzige Ausflug in die Stadt, den wir gemacht haben. Wir haben ansonsten viel Zeit im Hospiz verbracht. Der große Garten mit Wasserspielplatz hatte es Dir angetan und auch im Spielzimmer drinnen konntest Du Dich gemeinsam mit Mascha stundenlang beschäftigen. Teilweise war für Dich eine 1:1 Betreuung durch eine Krankenschwester gewährleistet, was bedeutete, dass wir Dich eben nicht rund um die Uhr im Auge behalten mussten. Da blieb dann auch für uns Zeit zum lesen und zum entspannen. Das brauchten wir auch, denn 2010 war auch das Jahr, in dem Du wieder in Therapie musstest. Du hattest bereits Deine ersten Infusionen einer neuartigen experimentellen Antikörpertherapie bekommen und gut vertragen. Gemeinsam mit unserem Onkologen verschoben wir den nächsten Zyklus so, dass wir wenigstens eine Woche nach Hamburg fahren konnten. Es war ohnehin sehr schwer gewesen, hier einen Platz zu bekommen. Wir haben diese Auszeit sehr genossen und viele unglaublich schöne Erinnerungen mitgenommen und nicht nur das, auch die Walflossenskulptur und das Seepferdchen sind hier entstanden und nun - Erinnerungssplitter, was für ein seltsames Wort, aber es beschreibt so zutreffend dieses Gefühl, so schmerzhaft und schön und so bin ich wieder an den Landungsbrücken raus mit Dir in meinem Herzen. Happy Birthday, Johchen, Morgen ist Dein 20. Geburtstag und die Sonne, der Mond und die Sterne scheinen nur für Dich.
Es ist nicht gestern gewesen, aber dass es schon 10 Jahre her ist, kann ich kaum fassen. Die Zeit fliegt dahin, die Erde dreht sich weiter und ich erinnere mich genau, heute vor 10 Jahren wollte ich, dass alles stillsteht, weil das für uns Unfassbare geschehen war. Damals wie heute weiß ich, dass so viele unfassbare Dinge geschehen und das Leben trotzdem ungerührt weitergeht. Mir fällt noch ein, was ich im Jahr darauf gedacht habe: Ich wollte ein Buch schreiben über Dich, Deine Geschichte der Welt erzählen oder zumindest jenen, die sie hören wollen. In 10 Jahren schaffe ich das, habe ich gedacht. Dann kam das Leben, wie immer, und heute gibt es kein Buch sondern nur diesen Blog, der aber ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Er hat seinen Platz an diesen besonderen Tagen des Jahres, einer davon ist heute, der Tag, an dem Du zu den Sternen gegangen bist.
Aber wie jedes Jahr soll es bei diesen Zeilen nicht darum gehen, sondern um Dein Leben, Deine Zeit bei uns, die einfach intensiv war. So waren wir vor kurzem in unserem alten Kiez, sind durch den Volkspark Friedrichshain gelaufen, vorbei am Märchenbrunnen, an den Spielplätzen und haben uns erinnert. Wie oft sind wir mit dem Reha-Buggy und später mit dem Rollstuhl mit Dir und Deiner Schwester dort gewesen. Das war schon ein Tagesausflug, denn der Weg von unserer Wohnung an der Prenzlauer Allee war zu Fuß recht weit. Da musste man schon alles dabei haben, zu essen und zu trinken und natürlich auch die Medizintechnik mit im Gepäck. Soweit ich mich erinnere, haben wir das gern bei schönem Sommerwetter gemacht und meist nicht nur einen, sondern beide großen Spielplätze nacheinander besucht und natürlich den Märchenbrunnen. Der war nicht immer mit Wasser gefüllt, aber wenn das Wasserspiel an war, war es besonders schön. Die Spielplätze sehen heute natürlich anders aus, nach 10 Jahren ist das wohl auch nicht überraschend. Trotzdem konnte ich Dich vor mir sehen, wie Du über den Spielplatz läufst in Deiner unnachahmlichen Art zu gehen, immer leicht schwankend. Man dachte, Du fällst gleich, aber das bist Du nicht, zumindest nicht so oft. Ich erinnere mich auch an den Sommer 2010, da hatten wir ein Babyplanschbecken auf dem Balkon aufgestellt. Es gibt sehr lustige Fotos von Dir und Deiner Schwester. Mit einem coolen Seitenzopf und im Bikini - irgendwo muss man ja den Hickman-Katheter verstecken - standest Du mit Mascha unter einem Minisonnenschirm und ihr habt Faxen gemacht. Ich glaube, in diesem Sommer war es zeitweise sehr heiß und Hitze ist Dir nie so gut bekommen, so dass wir nur kurze Ausflüge gemacht haben und sonst lieber drinnen geblieben sind. Aber langweilig war Euch nie. Später im August sind wir dann für eine Woche in das Kinderhospiz Sternenbrücke nach Hamburg gefahren. Da war es schon nicht mehr so heiß, aber trotzdem sehr schön. Wir haben Ausflüge in die Stadt gemacht, uns zum Beispiel die Eisenbahn-Miniaturenwelt angesehen. In der Sternenbrücke gab es natürlich ein gut ausgestattetes Spielzimmer, indem Du viel Zeit verbracht hast. Auch der Gartenbereich mit Wasser- und Matschecke hatte es Dir angetan. Es gab auch einmal Besuch von einem mannsgroßen Teddybären "Bear Emy", vor dem Du - anders als viele andere Kinder - natürlich keine Angst hattest. Vielleicht hast Du es Dir auch nicht anmerken lassen, jedenfalls hast Du mit ihm rumgealbert und -getobt. Es war einfach herrlich zu sehen, wie viel Spass Du hattest. An einem Nachmittag gab es sogar ein Konzert dort. Es spielte ein lokale Band, an ihren Namen erinnere ich mich nicht, aber daran, wie schön es war, mit anderen auf der Wiese zu sitzen und Musik zu hören. Ich weiß gar nicht, ob Deine Schwester sich noch daran erinnern kann, aber das war eigentlich Euer erstes Freiluftkonzert und Du wie immer mittendrin, vorn an der "Bühne" wolltest Du unbedingt mittanzen.
Es gibt noch etwas Besonderes, was wir aus Hamburg mitgenommen haben. Für uns Eltern gab es einen Kurs bei einem Steinmetz. Dort konnten wir aus Speckstein eine Skulptur herstellen. Das Motiv hat sich jeder selbst überlegt, ich hatte mich für eine Walfischflosse entschieden, bei Micha war es ein Seepferdchen. Wir haben jeweils ein Modell aus Ton geformt, nach dessen Vorbild der Steinmetz den Rohling gefertigt hat. Den Feinschliff haben wir dann wieder selbstgemacht. Seit neuestem haben die Walflosse und das Seepferdchen nun einen neuen Platz im Bad gefunden, doch egal wo in unserem Haus die Skulpturen standen, sie sind untrennbar mit Dir verbunden. Ich denke, dass es die Idee des Kurses war, eine solche Erinnerung zu schaffen und bin immer wieder erstaunt, dass es auch genau so funktioniert, auch heute noch. Man fühlt den Stein und sieht Dich vor sich, in dieser Zeit, holt Dich für einen Moment zurück und hat ein Lächeln auf dem Gesicht.
Es ist ein bißchen so wie mit Deinem Bild, dass Du im Jahr darauf im Kinderhospiz St. Nikolaus im Allgäu gemalt hast. Das hängt bei uns im Wohnzimmer, die Farben so kräftig und leuchtend wie vor 10 Jahren. Auf dem Bild hinter Museumsglas scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und ein Blick darauf genügt und Du bist hier bei uns und bleibst - für immer in unserer Erinnerung.
Die Zeit vergeht so schnell, schon wieder ist Sommer. Nicht ganz so heiss wie letztes Jahr, es gibt auch mal Regen zwischendrin. Die Blümchen auf Deinem Grab blühen um die Wette, dazwischen leuchtet weiß der Zauberschnee. Die Pflanze habe ich erst dieses Jahr entdeckt und fand den Namen so lustig. Ich musste gleich daran denken, dass wir Dir an Deinem 8. Geburtstag eine Kochschürze geschenkt hatten, mit der Aufschrift "Johanna zaubert". Das passt, dachte ich, besonders die Blüten, so klein und zart und doch so kraftvoll. Auch der Klee ist wieder da und füllt die wenigen Lücken in der Erde, wie eine Decke breitet er sich aus. Ich kann es mir nicht erklären, aber es zaubert ein Lächeln in mein Gesicht.
Es ist ein sehr heißer Sommer, Berlin ächzt unter der Hitze und auf Johanna´s Grab wächst Klee. Mit ganz kleinen Pflänzchen hat es angefangen und ich hab sie stehen lassen. Es erschien mir irgendwie passend. Nun breitet sich der Klee wie ein schützender Teppich zwischen den bunten Blümchen aus, die wir gepflanzt haben. Ein Lächeln auf dem Gesicht denke ich mir, das wird ihr gefallen, ich seh sie vor mir, auf einer Blumenwiese hält sie die Hände schützend über ein Gänseblümchen und freut sich: „Guck mal, so ein schönes Blümchen“. Wie behutsam sie manchmal über die Wiese ging, denn sie wollte kein Blümchen zertreten und keinen Käfer verletzen. Das war natürlich nicht immer so, aber doch so oft, dass es mir in Erinnerung geblieben ist. Weiterlesen
Vier Wochen habe ich nun nicht geschrieben, zwei davon waren wir im Urlaub, der wunderschön war. Wir starteten mit einem Besuch bei einer befreundeten Familie, die selbst auch ein Intensivkind haben. Eine schöne Gelegenheit sich nach langer Zeit endlich wieder einmal persönlich zu treffen und so die lange Fahrt ins Allgäu aufzuteilen. Die ebenerdige Wohnung ist behindertengerecht und es war so toll, Johanna ohne Stolperfallen einfach laufen zu lassen,Terassentür auf und raus in den Innenhof zum spielen, alles ohne gleich das Absauggerät gleich einpacken zu müssen. Das blieb in Reichweite mal drin. Abends saßen wir gemütlich auf der Terasse oder drinnen, das Pulsoximeter problemlos im Blick. Weiterlesen
Die Zeit rennt und der Tag hat irgendwie nie genug Stunden für all die Dinge, die zu tun sind. In dieser Woche blieb nicht mal Zeit, um mal zwischendrin "Revue passieren" zu lassen. Jetzt am Sonntag nutze ich nun endlich ein paar freie Minuten, um die Gedanken zu sortieren. Mascha hat ihre Schulfreundin zu Besuch, schon seit gestern. Das Mädchen ist auch körperbehindert und so parken nun zwei Rollstühle neben unserem Fahrstuhl. Die Beiden kennen sich schon seit der 1. Klasse und sind noch immer ein Herz und eine Seele. Es war nicht einfach diese Freundschaft zu halten, denn beide gehen inzwischen in unterschiedliche Klassen und ein Besuch nach der Schule ist ausgeschlossen, da wir an entgegengesetzten Enden der Stadt wohnen. Das ist der Nachteil einer Förderschule. Solche Besuchswochenenden müssen geplant sein und es ist umso schöner zu sehen, wie gut sie sich verstehen. Gleichzeitig seh ich Johanna, die niemanden hat, mit dem sie derart verbunden ist. Weiterlesen