Unser rätselhaftes Kind

Juli 16, 2012 - Lesezeit: 7 Minuten

Es ist Juli. Letztes Jahr um diese Zeit waren wir noch im Urlaub im Allgäu. Wir haben einen Ausflug mit der Seilbahn gemacht bei fantastischem Wetter. Die Kinder waren gut gelaunt und Johanna sprachlos vor Staunen über diese riesigen Berge – logisch, denn in Berlin gibt’s sowas nicht. Die pralle Sonne da oben hatten wir natürlich unterschätzt, genau wie die Tatsache, dass es bei solchen Steigungen schon mal anstrengend werden kann, ein Kind im Rollstuhl zu transportieren. Aber es war trotz allem ein rundum gelungener Tag, nur dass wir am Abend recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurden. Johanna klagte über Kopfschmerzen. Mein erster Gedanke war, es war falsch, mit ihr ins so grosser Höhe unterwegs zu sein. Andererseits gibt es Kinder, die trotz Shunt mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen, versuchte ich mich zu beruhigen. Bei all ihren medizinischen Problemen und der Schwere der Erkrankung war es eigentlich immer recht unkompliziert mit ihr unterwegs zu sein.  An das Mitschleppen der Medizintechnik hatten wir uns über die Jahre schon gewöhnt, das passierte schon automatisch. Da kann man schon mal "vergessen", dass das Kind einen Shunt hat. Johanna selbst blühte bei solchen Ausflügen immer auf. Sie liebte es draussen zu sein. Gerade die Fahrt mit der Seilbahn war für sie ein unglaubliches Erlebnis und erst die Aussicht, ein Stückchen Himmel zum Greifen nah.

Nach diesem Abend aber traten wir kürzer. Ganz automatisch schwenkte die Familie um, denn Johanna ging es nicht gut. Nach 6 Jahren Leben mit einem Intensivkind waren wir es gewöhnt, dass es nicht nach Plan geht, dass irgendetwas passierte, was ihre eben noch stabile Verfassung kippen liess. Wir blieben von nun an meist im Kinderhospiz. Das war kein Problem, denn für die Kinder gab es genug Möglichkeiten zum Spielen und wir nutzten die Zeit zum Entspannen, einfach mal was lesen oder sich mit anderen Eltern austauschen, abends lange sitzen bei einem Brettspiel und einem Glas Wein. Aber eine bange Stimme fragte sich immer wieder: Was stimmt nicht mit Johanna, denn ihre Kopfschmerzen traten nun täglich auf. Man sucht nach Erklärungen, aber da ist kein Gedanke an den Tumor. Stattdessen vermuteten wir "nur" Probleme mit dem Shunt, der vor 6 Jahren eingesetzt worden war, um das überschüssige Hirnwasser abzuleiten. Bei einem stetig wachsenden Kind wäre das nicht ungewöhnlich. Oder vielleicht ist es auch das unstete Wetter, das Klima in den Bergen, das sie nicht verträgt, oder vielleicht eine neue Nebenwirkung der Chemotherapie. Ich weiss nicht, was uns so blind hat sein lassen, aber es war gut so. Bei dem Verdacht auf einen neuen Tumor wären wir sofort abgefahren. Stattdessen blieben wir und erlebten gemeinsam eine weitere wunderschöne Urlaubswoche im Allgäu. In meinen Gedanken sehe ich Johanna im Trampolinzimmer des Kinderhospizes, höre ihr lautes unbeschwertes Lachen, ihr "Jipieh" im Schwimmbad, als der Therapeut sie mit sanften Bewegungen durch das Wasser gleiten lässt. Wir haben noch das  Bild, das sie kurz darauf mit Wasserfarben gemalt hat - Johanna mit leuchtenden roten Haaren im Wasser. Die Kunsttherapeutin meinte, sie muss sich sehr sicher und wohl gefühlt haben beim Schwimmen, denn sie hat sich selbst sehr groß gemalt. Bei dem Gedanken daran muss ich lächeln. Sie wünschte sich schon seit ewigen Zeiten, richtig zu schwimmen. So kurz vor dem Ende ist dieser Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen. Und noch ein weiterer Herzenswunsch von Johanna ging in Erfüllung, Sie hatte für 3 Tage eine Freundin, jemanden zum Spielen außer ihrer Schwester. Das Mädchen, das mit ihren Eltern ins Kinderhospiz gekommen war, hatte auch einen Broviac, einen zentralen Venenkatheter, über den sie allerdings ernährt wurde. Die Tatsache, dass beide einen "Schlauch" in der Brust hatten, schuf eine natürliche Vertrautheit. Fasziniert beobachteten wir, wie die beiden zusammen spielten. Nicht etwa mit Puppen oder so – nein, da wurde stundenlang eine im Garten stehende lebensgrosse Kuhfigur intensivmedizinisch versorgt. Mit kindlicher Ernsthaftigkeit wurden Wunden mit Pflastern versehen, Magensonden und Zugänge gelegt, die Kuh genauestens" überwacht". Sie spielten Erlebtes nach, sie kannten sich aus - alle beide, das war zu spüren. Die Tatsache, dass sie diese Erfahrungen nun endlich mit jemandem teilen konnten, hat beiden gut getan. Am Freitag Abend vor unserer Abreise hatte Johanna eine besonders schlimme Kopfschmerzattacke. Da sie schon am Monitor angeschlossen war, bemerkten wir die ungewöhnlich niedrige Herzfrequenz. Aber es fehlten immer noch die typischen Hirndruckzeichen wie Erbrechen und Stauungspupillen. Allerdings hatte Johanna seit der Tumor-OP nie wieder erbrochen, möglicherweise fehlte ihr der dafür nötige Reflex. Als Johanna am nächsten Morgen gut gelaunt aufwachte und schmerzfrei war, entschlossen wir uns, wie geplant zu fahren. Wir wollten auf der Rückfahrt auch einen Zwischenstopp mit Übernachtung einlegen, damit die Fahrt nicht zu anstrengend wurde - diesmal bei der Uroma. Es klappte erstaunlicherweise alles super. Die Kinder quatschten und kicherten im Auto und auch der Nachmittag bei Uroma verlief sehr harmonisch. Es gab viel zu berichten und die Kinder wurden natürlich von der Uroma beschenkt. Ich weiß noch, dass wir gemütlich bei Kaffee und Kuchen saßen und die Kinder gleich danach spielten, als von jetzt auf gleich der Kopfschmerz zuschlug und Johanna dabei sehr blass wurde. Wir verabschiedeten uns schnell und fuhren gleich ins nahegelegene Hotel, um Johanna sofort hinzulegen.Nur eine halbe Stunde später war der „Spuk“ vorbei und Johanna verfolgte vom Bett aus gespannt ein Fussballspiel im Fernsehen. Aus heutiger Sicht kann ich mir kaum vorstellen, dass sie wirklich schmerzfrei war, vermutlich war es gerade eben auszuhalten und so schob sie es weg und wandte sich interessanteren Dingen zu. Die Nacht im Hotel war für mich sehr unruhig, weil der Monitor fortwährend alarmierte. Allerdings nicht wie üblich wegen der Atempausen, sondern wegen einer zu niedrigen Herzfrequenz. Das war neu und ganz offensichtlich ein dauerhaftes Problem.

Am nächsten Morgen saßen wir gemeinsam beim Geburtstagsfrühstück für Micha, die Uroma war auch dabei. Der Versuch, eine fröhliche Stimmung zu verbreiten, gelingt uns Eltern nicht ganz. Da war diese Sorge, diese Angst vor dem was nun kommen würde. Wir ließen Johanna keine Sekunde aus den Augen, obwohl es ihr augenscheinlich gut ging und sie mit großem Appetit ihr Frühstück vertilgte. Dieser Sonntag verlief erstaunlich glatt, wir waren schon am frühen Nachmittag in Berlin und fuhren nicht direkt nach Hause, sondern zu Oma und Opa, die das Geburtstagskind ja auch sehen wollten. Johanna tobte zunächst fröhlich mit Mascha durch den Garten und uns blieb Zeit und Ruhe, um über den wunderschönen Urlaub im Allgäu zu berichten. Alles ist gut, ganz normal - bis zur nächsten Kopfschmerzattacke am frühen Abend. Die Erklärung, dass die lange Fahrt wohl doch ein bisschen zu viel für sie war, glaubten wir uns selbst nicht, aber jeder andere Gedanke wurde weggeschoben. Schnell geht’s nach Hause, um Johanna dort hinzulegen, denn das scheint das Beste zu sein, was man tun kann. Als der Nachtdienst kommt, folgt eine sehr lange Übergabe voller Gegensätze. Einerseits berichtet man von dem Urlaub, der voller einmaliger Erlebnisse für jeden von uns war, andererseits ist der Kopfschmerz das Thema und die plötzlich viel zu niedrige Herzfrequenz von Johanna im Schlaf. Der Pfleger richtet sich auf eine unruhige Nacht ein. Es kommt wie erwartet, Johanna schläft zwar durch, hat auch keine weiteren Kopfschmerzen, aber ihre Herzfrequenz ist viel zu niedrig. Es ist klar, dass wir mit ihr ins Krankenhaus müssen. Zuallererst muss ich aber an diesem Tag arbeiten ins Büro und mit einem mulmigen Gefühl mache ich mich auf den Weg. Der Anruf von Micha erreichte mich nur wenige Stunden später, so gegen Mittag. Nach einer weiteren Kopfschmerzattacke am Vormittag schlief Johanna nun mit einer so niedrigen Herzfrequenz von unter 40 Schlägen pro Minute, dass Micha sofort mit ihr in die Klinik fahren will. Ich lasse alles stehen und liegen und fahre sofort zu ihnen. An diesem Punkt die Gedanken zu sortieren, fällt schwer. Die Erinnerungen überrollen mich, denn ab diesem Tag war nichts mehr wie vorher. Dieser 11. Juli 2011 war der Anfang vom Ende.

About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.