Geburtstage sind immer besonders, gerade beim eigenen Kind. Man schwelgt in Erinnerungen und freut sich auf die Zukunft, das nächste Jahr, den nächsten Schritt. Doch wo keine Zukunft mehr ist, bleibt die Erinnerung, so hell und klar, als wäre es gestern gewesen. Der Tag ihrer Geburt, ein Sonntag und sie hatte es furchtbar eilig, auf diese Welt zu kommen, als wüßte sie, dass ihr nur eine kurze Zeit bleibt. Sie war ein Sternengucker. Das sind ganz besondere Menschen, sagte uns damals die Hebamme. Sie sollte recht behalten.
Ihren 1. Geburtstag haben wir ein Jahr später recht ruhig gefeiert, ganz in Familie. Aufregungen waren nicht gut für sie. Sie war furchtbar dünn in dieser Zeit und es gab öfter auch Tage, an denen sie gar nicht essen wollte. Kuchen war noch tabu, da eine Laktoseunverträglichkeit im Raum stand. Die musste als Erklärung herhalten für ihr geringes Gewicht. Aber ich weiß noch genau, wie schön sie an diesem Tag mit Mascha spielte.
An ihrem 2. Geburtstag war die Situation völlig anders. Um 7 Uhr morgens komme ich in der Klinik auf der Intensivstation an. Der Oberarzt empfängt mich mit den Worten „Wir haben nur noch auf sie gewartet. Sie sollten sie wenigstens noch wach sehen. Wir müssen jetzt gleich intubieren und ihre Tochter dafür in Narkose legen. Sie bekommt trotz Sauerstoffgabe kaum noch Luft - eine schwere Lungenentzündung“. Ich sehe sie vor mir, den kleinen Brustkorb, der nach Luft ringt und ihre Augen, die mich ansehen, aber ob sie mich erkennen, weiß ich nicht. Wenige Wochen zuvor hatte man den Tumor in ihrem Kopf entdeckt, den eigentlichen Grund, warum unser Kind nicht gedeihen konnte. Es war nur teilweise gelungen, ihn zu entfernen und das zu einem hohen Preis. Johanna hatte seit der Operation keinen Laut mehr sich gegeben, kein Wort mehr gesprochen und dass obwohl sie vorher schon sprechen konnte. Sie konnte nicht mal mehr den kleinen Finger bewegen. Sie lag einfach nur still da und schaute uns an, mit offenen Augen und diesem Blick, den man nicht deuten konnte. Die Schwestern hatten das Zimmer liebevoll geschmückt mit Ballons und einer lachenden selbstgebastelten Sonne. Es kamen Glückwünsche von Johanna´s Kindergartengruppe, ein selbstgemaltes Bild von allen Kindern, ein buntes „Krikelkrakel“ - wie eben 2jährige so malen - aber es rührte mich zu Tränen, dass sie an sie gedacht haben. Und das war der Moment, als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass ich nicht weiß, ob sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben wird.
Aber Sternengucker sind eben besondere Menschen und so feierten wir ihren 3. Geburtstag im Kinderhospiz Sonnenhof. Es war ein unglaublicher Tag und das in vielerlei Hinsicht. Trotz bereits 6 Monaten Chemotherapie hatte sie immer noch ihre rotblonden Locken auf dem Kopf. Es war nicht selbstverständlich, dass sie gerade gesund war und diesen Nachmittag genießen konnte, denn das Immunsystem war nicht gerade gut drauf, dafür aber Johanna umso mehr. Die Familie hatte sich fast vollständig versammelt und neben Geschenken von uns gab es auch noch welche vom Sonnenhof und auch aus der Klinik. Es war ein so reich gedeckter Geburtstagstisch, als wollten wir nachholen, was am 2. Geburtstag nicht möglich war. Wir feierten ihr Leben als das größte Geschenk. Ich hatte einen Kuchen gebacken, von dem sie nichts aß, denn Kuchen war damals nicht so ihr Ding. Sie mochte lieber Herzhaftes, wie z. B. Würstchen, wohl eine Folge der Chemotherapie. Aber die Smarties als Verzierung obendrauf, die hat sie einzeln abgesammelt und gegessen, ein Geduldspiel für ein Kind mit so schlechter Feinmotorik, aber die Schokolade war wohl unwiderstehlich – wie für alle Kinder. Es war so schön zu sehen, wie Johanna sich freute und schließlich zusammen mit Mascha und Luca um die Wette krabbelte – dabei laut juchzend. Und plötzlich war sie einfach ein Kind und der Krebs war weg – für einen Moment. Und ich war voller Hoffnung, dass sie stark genug ist, für ein weiteres Jahr.
Ein Jahr später, am selben Ort sieht es ganz anders aus. Ich habe einen Schmetterlingskuchen gebacken, die Grosseltern und Mascha warten im Aufenthaltsraum vom Sonnenhof. Aber Johanna sitzt noch immer in ihrem Bett. Sie wird beatmet und ist wach. Die Schwestern berichten von einem Monitoralarm während der Übergabe. Sie fanden Johanna krampfend im Bett. Sie war bereits bewusstlos und atmete nicht. Nun war das an sich kein Problem, denn man konnte sie ja problemlos über die Trachealkanüle beatmen. Ungewöhnlich war dann aber doch, dass sie zwar wieder erwachte, aber ihre Atmung setzte nicht wieder ein. Die komplette Belegschaft vom Sonnenhof war bei ihr versammelt und hoffte auf ein Wunder, hoffte, nicht den Notarzt rufen zu müssen, nicht an diesem Tag. Und unser Kind verlangte nach ihrer Lieblings-CD, mit flüsterleiser Stimme, denn viel Luft blieb ihr nicht. Das wäre fast lustig gewesen, wenn die Situation nicht so beängstigend gewesen wäre. Johanna bekommt ihre CD und Besuch vom Notarzt, der dann auch feststellen muss, dass kein eigener Atemantrieb vorhanden ist. Und so verbringt Johanna den Rest ihres Geburtstages auf der Intensivstation einer Klinik - mal wieder. Die nächsten Wochen werden hart. Vollgepumpt mit Medikamenten ist Johanna kaum noch sie selbst, stürzt von einer Krise in die nächste, bis wir entscheiden, dass hier Schluss ist - Schluss mit der Chemotherapie. Wir wollen sie nach Hause holen mit allen Konsequenzen.
Und wie so oft überrascht sie uns. Ich kann dieses Glücksgefühl kaum beschreiben, als ich zu Hause in der Nacht vor ihrem 5. Geburtstag ihr Zimmer schmücke, Girlanden und Luftballons an das Pflegebett hänge, in dem mein schlafendes Kind liegt. In der Küche sitzt eine Krankenschwester, die in der Nacht sorgsam Johanna's Schlaf überwacht. Seit 4 Jahren bin ich dann zum ersten Mal diejenige, die Johanna an ihrem Geburtstag weckt, ihr ein Lied singt, sie in den Arm nimmt. Das war so unglaublich schön. In den 10 Monaten davor sind wir wieder eine richtige Familie geworden, mit ein paar kleinen Besonderheiten natürlich, z. B. einem Kinderzimmer, in dem außer dem üblichen Spielzeug auch ein Pflegebett und noch jede Menge Medizintechnik rumstehen, oder auch dem Pflegedienst, der täglich bis zu 16 Stunden bei uns ist. Aber wir sind zusammen, jeden Morgen beim Frühstück, beim Abendessen, gehen gemeinsam auf den Spielplatz, schauen abends gemeinsam den Sandmann. All diese Dinge, die für andere Familien selbstverständlich sind, erleben und geniessen wir, oft ganz bewusst.
Die folgenden Jahre werden die schönsten sein, so fühlt es sich jedenfalls an. Sicher auch, weil man die Krisenzeiten verdrängt, die es natürlich auch gab. Ihren 6. Geburtstag feiert Johanna sogar im Kindergarten und als sie im Jahr darauf zu Schule kommt, gibt es auch dort eine kleine Party im Klassenzimmer. Unglaublich, wenn man bedenkt, sie 5 Jahre zuvor bewegungslos und stumm auf der Intensivstation lag. Seitdem ist viel passiert. Johanna hat sogar Laufen gelernt. Zwar gleicht ihr Gang dem eines Seemanns, aber sie läuft und das gibt ihr mehr Selbständigkeit, zumindest für kurze Strecken. Sie ist ein sehr eigenständiges Kind mit einem starken Willen, jemand, der gern gegen den Strom schwimmt.
Ich weiß noch, wie sie ein paar Wochen vor ihrem 8. Geburtstag sagte "Ich will aber nicht 8 werden! Ich will 10 werden, wie Mascha, dann kann ich bestimmt auch so schnell laufen." Zu diesem Zeitpunkt darf sie schon nicht mehr in die Schule gehen. Der Krebs ist zurück, diesmal im Brustwirbelbereich. Sie bekommt eine experimentelle Antikörpertherapie, um Zeit zu gewinnen und um vielleicht zu verhindern, dass sie komplett im Rollstuhl landet. Wir feiern ihren 8. Geburtstag zu Hause, ganz in Familie und es wird ein schönes Fest - ohne besondere Vorkommnisse. Johanna bekommt von uns eine Kochschürze mit ihren Namen drauf - ein ganz einfaches Geschenk, aber sie hat sich so darüber gefreut und sie den ganzen Tag getragen. Sie hat schon immer viele Geschenke bekommen - sicher auch weil sie so krank war - und doch war sie kein Kind, das ständig gefordert hat. Ein einzelnes Geschenk wäre ihr auch genug gewesen. An vielen ihrer Geburtstage hat sie ohnehin nur ein oder zwei ausgepackt, den Rest der Geschenke dann oft erst Tage später. Da war ihr der Geburtstagskuchen inzwischen schon wichtiger, denn sie war verrückt nach Kuchen und Keksen. Das bringt mich zu jenen Tagen im August 2011, als Micha eines Abends mit einer Karte von einem Tortenbäcker nach Hause kam und zu mir sagte: "Wenn sie es bis zu ihrem Geburtstag schafft, bekommt sie eine richtige Petterson und Findus Torte."
Wer diesen Blog verfolgt, weiß, dass wir ihren 9. Geburtstag ohne sie verbracht haben. Sie hat die Torte nie bekommen. Aber auch wenn das traurig ist, waren wir doch froh, dass sie nicht mehr so lange durchgehalten hat. Das wäre ein zu hoher Preis gewesen, so viel Schmerz und Leid.
Danach war es zunächst schwierig, diesen besonderen Tag zu gestalten - ohne sie und doch mit ihr. Inzwischen haben wir etwas gefunden. Wir backen, aber keinen Geburtstagskuchen, sondern Plätzchen. Letztes Jahr haben Mascha und Micha den Elefanten und die Maus aus „der Sendung mit der Maus“ aus Lebkuchenteig gebacken. Diese Sendung fand Johanna toll. Plätzchen gebacken habe ich früher auch mit den beiden Mädchen. Johanna konnte es immer kaum erwarten, endlich zu kosten. In diesen Tagen hilft uns die Vorfreude auf das gemeinsame Backen, das Planen und Einkaufen, um mit dem Schmerz umzugehen, der auch immer dabei ist. Es bringt die Familie zusammen und Johanna ist irgendwie mittendrin, für einen Wimpernschlag ist sie da, an dem mit Mehl bestäubten Küchentisch, hat ihre „Johanna-Schürze“ an und kann es kaum erwarten, dass sie das erste Plätzchen kosten darf.
Happy Birthday Johanna!