Heute ist dein 13. Geburtstag und schon der fünfte, den wir ohne dich feiern müssen. Ich versuche mir vorzustellen, wie du jetzt aussehen würdest. Vielleicht wärst du grösser als deine inzwischen 16jährige Schwester, denn schon damals warst du trotz Chemo verhältnismässig gross und kräftig. Erst letztens haben wir uns daran erinnert, dass der Orthopädietechniker damals sagte - die nächsten Beinschienen bauen wir aus Carbon, sonst werden sie zu schwer. Zu gern hätte ich gesehen, wie du mit diesen Schienen versuchst zu rennen.
Mascha hätte dich bestimmt gewinnen lassen und ihr hättet doch beide gewusst, dass es nicht in echt so ist. Mascha vermisst dich sehr. Sie redet oft von Dir. Sie sagt, dass sie froh ist, dass ihr "im Herzen noch verbunden seid". Du bist noch immer ihr allerliebstes Johchen. Es ist nicht immer leicht, das zu hören. Sie ist doch mein Kind so wie du und es zerreißt mir das Herz, aber ich kann es nicht ändern, ich kann nichts tun, um ihr den Schmerz zu nehmen, der auch mich jeden Tag begleitet.
Ich hätte so gern gesehen, wie du gross wirst, jene Schwelle zwischen Kindsein und Erwachsenwerden erreichst. Du wärst ein streitbarer Geist gewesen, hättest so vieles in Frage gestellt. Es wäre nicht einfach gewesen, aber es gibt so oft Momente, in denen ich mir eine dieser "Diskussionsrunden" mit dir wünsche. "Mama, noch fünf Minuten" würdest Du sagen, "dann komme ich". Mademoiselle 1000 Volt, so hat unser Onkologe dich liebevoll genannt. Auch er war fasziniert von deiner Energie, deiner Art jeden Tag so zu nehmen, wie er ist und das Beste daraus zu machen.
Du fehlst mir jeden Tag, doch bevor ich in tiefe Verzweiflung versinken kann, taucht eine Erinnerung an dich auf wie ein strahlendes Licht im Dunkel. Unsere Fahrt auf dem Piratenschiff auf Sylt zum Beispiel, Mascha fand den Piratenkapitän gruselig, aber du warst völlig von ihm fasziniert, so typisch für dich, deine Vorliebe für Antihelden. Noch heute wundere ich mich, dass du immer ausgerechnet die böse Hexe Malicia sein wolltest. Den Jungen Malte aus dem Buch mit den Kindergartengeschichten, der immer die anderen Kinder ärgerte, fandest du so faszinierend, dass du später deinen Plüsch-Dinosaurier so genannt hast. Ich erinnere mich noch deutlich - fast kann ich deine Stimme hören - seh dich vor mir, wie du in deinem Pflegebett sitzt, umgeben von deinen Kuscheltieren und Puppen und mit Malte schimpfst. Einmal kamst du aus Schule mit einem Gesicht, dass du im Keramikunterricht gemacht hattest. Die flache Scheibe mit der Knubbelnase sah aus wie ein miesepetriger Smiley. Auf meine Frage, warum, sagtest Du nur: "Aber Mama, ein lachendes Gesicht machen doch alle". Ich hab kurz nachgedacht und musste dann zugeben, dass Du recht hattest.
Mascha erzählte mir neulich, dass Papa euch mal mit unserer alten Digitalkamera aufgenommen hat und als du das gemerkt hast - damals wolltest du nicht gefilmt werden - bist du mit erhoben Armen im Zimmer herumgerannt und hast gerufen "Hilfe, ich werde gefilmt". Ich war leider nicht dabei und die Speicherkarte der Kamera ging kaputt, bevor wir den Film sichern konnten. Man kann leider nicht alles festhalten per Foto oder auf Film, auch wenn ich mir das so manches Mal wünsche. Es gibt so viele Fotos von dir und doch können sie den Verlust nicht ersetzen. Du bist mir auch ohne Fotos so nah. Da fällt mir gleich eine andere Filmaufnahme von dir ein. Damals war das Kinderhospiz Sonnenhof dein vorübergehendes Zuhause, wenn du nicht gerade zur Chemotherapie in der Klinik warst. Etwa dreieinhalb Jahre alt lagst du bäuchlings auf dem Boden in deinem Zimmer und hast ausgemalt, natürlich ziemlich ungenau, denn schon das Stifthalten fiel dir unheimlich schwer. Mit einem verschmitzten Lächeln blickst du mich und den filmenden Kameramann an und sagst: "Das ist mir - nicht - so gut - ge - lungen". Es ist lustig, dass wir diesen Satz inzwischen oft selbst benutzen, wenn mal wieder was schiefgegangen ist und egal wer ihn sagt, jeder versucht deinen Tonfall zu treffen und macht Pausen an den Stellen, wo du sie gemacht hast, weil dir die Luft zum flüssigen Sprechen fehlte. Und ganz unwillkürlich schleicht sich ein Lächeln ins Gesicht und du bist da, ganz nah bei uns.
Ich könnte noch viele solcher Geschichten erzählen und jeder der dich kennenlernten durfte, hat bestimmt seine eigene parat. Doch an Tagen wie diesen fällt es mir besonders schwer zu akzeptieren, dass es keine neuen Erlebnisse mit dir geben wird. Wo auch immer du bist, Johchen, heute strahlen die Sonne, der Mond und die Sterne nur für dich.