Weißt Du noch damals?

August 9, 2017 - Lesezeit: 6 Minuten

Ich fange spät an zu schreiben dieses Jahr, obwohl Du immer in meinen Gedanken bist – zumindest das hat sich nicht verändert, auch nicht sechs Jahre später – aber das Leben geht weiter, fordert mich und dies nicht immer im positiven Sinne. Wieder ist ein Familienmitglied schwer krank und er beginnt von Neuem, unser Kampf mit Ärzten, der Krankenkasse und dem allseits vertrauten medizinischen Dienst der Krankenkassen – kurz MDK. Trotz vielen Jahren Erfahrung stehen auch wir zu oft hilflos da, schütteln den Kopf über das System, das nicht den Menschen, den Patienten sieht, sondern nur Vorschriften und Paragraphen. Heute blicke ich bewusst zurück, auf die Momente, in denen es uns auch bei Dir so ging. Kurz nach der Diagnose Hirntumor und der darauffolgenden OP hatten wir das Glück, zumindest in den Ärzten und Schwestern verständnisvolle Partner zu haben, die das Gespräch suchten, uns immer informierten, egal wie schlimm die Situation war. Und es war schlimm damals, Du hast bei jeder Komplikation hier gebrüllt.

Man hatte uns im Verlauf dann erklärt, dass man früher bei Kindern mit Hirntumor-OP eigentlich sofort auch gleich einen Shunt, das Tracheostoma und eine Magensonde (PEG) gelegt hat. Allerdings stellte sich über die Jahre heraus, dass nicht alle Kinder diese Maximalversorgung benötigen. Aber Du brauchtest offensichtlich das „volle Programm“, was im Klartext bedeutet, dass auf die schon recht riskante teilweise Entfernung des Tumors, noch zwei weitere Operationen für die Anlage des Shunts und des Tracheostomas nötig waren, von der Lungenentzündung ganz zu schweigen, die letzten Endes die Anlage des Tracheostomas unumgänglich machte, weil es nicht gelang, Dich von der Beatmung zu nehmen. Erst mit „Deiner Kanüle“ – so hast Du selbst sie auch immer genannt – ging es endlich bergauf. Vorher in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen begannst Du endlich zu reagieren, auch wenn das Sprechen noch nicht möglich war. Ich erinnere mich sehr genau, dass Du mich endlich bewusst anblicktest. Man konnte Dir genau ansehen, wie Du aufmerksam zugehört hast, wenn Dir jemand vorlas. Wir hatten außerdem einen Kinderkassettenrecorder am Kopfende Deines Gitterbettes mit Deinen Lieblingskassetten und in den Lesepausen lief der eigentlich immer. Es muss irgendwann im Dezember gewesen sein, als die Kassette zu Ende war und ich es nicht bemerkte, weil ich sie wie Hintergrundmusik oft nicht mehr bewusst wahrnahm. Du konntest Dich damals kaum selbst bewegen und auch nicht drehen. Also überstreckest Du den Kopf und schautest nach oben und dann wieder mich an – immer im Wechsel – bis ich es endlich kapierte, ich soll die Musik wieder anmachen! Das war ein wunderschöner Moment, so hoffnungsvoll, genau wie Dein erstes Lächeln, kurz vor Weihnachten.

Als im Januar einer der Ärzte auf die Idee kam, Dir eine Sprechkanüle anzubieten, weil er meinte, er habe den Eindruck, Du würdest gern sprechen wollen- war das wieder ein riesiger Schritt nach Vorn. Ein Hoch auf die sehr aufmerksamen Ärzte der Intensivstation – dies haben wir später leider allzu oft nicht mehr so erlebt. Der Arzt sollte recht behalten. Brummtöne waren zunächst allerdings das einzige Geräusch, das Du machen konntest, was Dir natürlich Angst machte. Aber auf meine Bemerkung, „Du brummst ja wie ein Bär“, hast Du fleissig „weitergebrummt“ und geübt – denn Du liebtest ja Lars, den Eisbären. Als wir von unserem einwöchigen Winterurlaub, den wir lange vor der Diagnose schon gebucht hatten, zurückkamen, hatten die Schwestern so fleißig mit Dir geübt, dass Du uns mit Mama, Papa und Mascha begrüßt hast. Dieser Moment war unbeschreiblich. Wir hatten Dich endlich wieder, obwohl wir Dich schon verloren glaubten.

Im Februar 2005, drei Monate nach der OP - folgte dann der nächste Schritt – die Anschlussheilbehandlung in der Früh-Reha, in Worten eine Verlegung direkt von einer Intensivstation in die nächste. Dass das nötig war, hattest Du den Ärzten leider auch deutlich gezeigt. Neben der schwer einstellbaren Epilepsie, die in der Regel auch mit Atemstillständen einherging, hattest Du leider noch eine weitere Eigenart entwickelt. Scheinbar wenn Dir etwas nicht passte, oder Du jemanden nicht mochtest oder Dich erschreckt hast, hieltest Du recht eindrucksvoll die Luft an und dies bis zur vollständigen Bewusstlosigkeit und leider auch darüber hinaus, denn Dein geschädigtes Atemzentrum arbeitete nicht zuverlässig. Man konnte hier also nicht einfach abwarten, sondern musste handeln, das heißt beatmen. Damit standest Du Dir natürlich oft selbst im Weg, denn vorzugsweise bei Therapien reagiertest Du auf diese Weise. Das war für alle Beteiligten anstrengend, denn es schränkt den Bewegungsradius erheblich ein, wenn man ständig damit rechnen muss, dass die Atmung aussetzt, aber wir setzen uns durch, und sowohl wir als auch die Therapeuten machten nach dem „Affektkrampf“- so lautete die medizinisch korrekte Bezeichnung dafür - weiter.

An diesem Punkt, also etwa zwei Wochen nach dem Beginn der Reha hatte ich ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin der Rehaklinik, die mich darüber informierte, dass unsere Krankenkasse der Meinung sei, dass Johanna auch zu Hause weiter ambulant therapiert werden könnte. Ich war gelinde gesagt entsetzt und sehr erschrocken. Wir hatten in diesem Fall wieder das Glück, kompetente Ärzte und Sozialarbeiter an unserer Seite zu haben. Der Kommentar der Ärztin damals war sehr trocken: „Ach wissen Sie, wir lassen den MDK kommen und er soll mal einen halben Tag mit Johanna, Monitor, Sauerstoffflasche und Beatmungsbeutel durch unser Haus laufen. Spätestens dann bewilligen sie die weitere Behandlung hier“. Der MDK kam dann übrigens doch nicht, sondern es genügte ein entsprechender Brief der Klinik für eine Entscheidung nach Aktenlage - man könnte auch sagen, den Einsatz von gesundem Menschenverstand. Die Bemerkung der Ärztin habe ich mir allerdings in der Folge zum Motto gemacht und in ausweglosen Situationen für den Notfall immer überlegt, ob ich mit Dir nicht bei der Krankenkasse persönlich vorspreche und Dich live vorführen lasse, was das Problem ist. Letzten Endes war es nie nötig, meine Briefe waren wohl plastisch genug. Aber ich bin mir sicher, Du hättest einen bleibenden Eindruck hinterlassen, „Madmoiselle 1000 Volt“ und der zuständige Sachbearbeiter/In hätte vielleicht endlich begriffen, dass hinter jeder Akte ein Schicksal steht, ein Mensch, der es wert ist, dass ihm geholfen wird und zwar ohne Paragraphenreiterei und Bürokratie.

Ich habe immer geglaubt, dass Du die Welt verändern kannst, wenn Du nur alt genug wirst. In Deiner kurzen Zeit hier bei uns, hast Du alle beeindruckt mit Deiner einzigartigen Persönlichkeit. Es gibt so viele, die an Dich denken, auch noch nach 6 Jahren. Du fehlst mir – uns – ich kann und will keine Liste machen, weil ich Angst habe, jemanden zu vergessen. Ich vermisse Dich mehr als ich je mit Worten sagen kann – mein unglaubliches wunderbares Kind.

About

Ich bin Daniela und habe diesen Block begonnen, um die Chemotherapie unserer Tochter Johanna zu dokumentieren. Dass daraus ein Blog über die Verarbeitung von Trauer über den Verlust des eigenen Kindes werden würde, hab ich nicht vorausgesehen. Hier möchte ich ihre Geschichte erzählen, damit sie nicht vergessen wird. Aber vielleicht kann ich anderen Betroffenen auch ein wenig helfen.