Es ist schon wieder Sommer, unfassbar eigentlich, aber die Zeit vergeht. Sie blickt nicht zurück, so wie ich. Ich vermisse Johanna - noch immer, noch mehr. Früh am Morgen ist sie mir am nächsten, wenn alles noch still ist im Haus. Seit Wochen höre ich dann Philip Poisel. Der Weltschmerz in der Stimme des jungen Sängers trifft den meinen. Holt die Erinnerungen hervor, ganz besonders die traurigen. Aber diesmal weiche ich nicht aus, schiebe sie nicht weg. Ich denke, dass ich es aufschreiben muss - endlich. Der Tod gehört zum Leben, sagt man. Aber wo fängt man da an. Weiterlesen
Am Samstagmorgen wird Johanna nur schwer wach. Sie erkennt mich zwar, mag sich aber nicht so recht bewegen und noch viel weniger sprechen. Ein paar kurze Antworten auf meine Fragen bekomme ich zwar schon, aber dabei fällt mir sofort auf, dass die Mimik der linken Gesichtshälfte nicht richtig funktioniert. Auch die wenigen sparsamen Bewegungen, die Johanna selbst macht, beschränken sich auf die rechte Körperhälfte. Als ich bei der Visite einen Arzt darauf anspreche, meint dieser ganz trocken, nach zwei so schweren Eingriffen könne das Grosshirn schon mal länger "beleidigt sein". Super, nun auch noch ein beleidigtes Grosshirn, als ob der Tumor nicht reichen würde. Weiterlesen
In den nächsten 3 Tagen warten und hoffen wir, das heisst wir warten auf einen freien Platz im übervollen OP-Plan und hoffen, dass es dann gelingt, einen internen Shunt zu legen. Die Chirurgen wollen bei dieser OP gleich noch Zellen vom Tumor entnehmen, um dann vielleicht genauer untersuchen zu können, was dort wächst. Das ist für uns allerdings zweitrangig, viel wichtiger ist, dass wir sie mit einem internen Shunt recht schnell nach Hause holen könnten. Endlich nach Hause - genau das wollen wir für sie und für uns. Weiterlesen
Die Ankunft in der Klinik kann man fast als komisch bezeichnen. Zeitgleich kommen wir dort an, Micha vom Parkplatz, den er sicher eine Weile suchen musste, mit Mascha und einer munteren Johanna im Rollstuhl, die mir mit hochgestreckten Armen winkt und ich direkt von der U-Bahn. Das Gefühl der Erleichterung ist überwältigend, denn sie ist noch da - unsere Johanna - und wir sind zusammen. So war es schon immer, bei jeder dramatischen Krise kam der jeweils andere Partner sofort. Meistens war es Micha, der auf Arbeit alles stehen und liegen lassen musste. Heute ist es mal umgekehrt. Aber dieser Kampf kämpft sich leichter zu zweit, wobei leicht das falsche Wort ist, ich würde sagen, es ist nur so auszuhalten. Micha erzählt mir, dass sie während der Fahrt aufgewacht ist und seit dem singt sie fröhlich Bosse-Lieder mit. Mensch Mäuschen, sage ich, wenn Du willst, dass ich noch frei nehme, hättest du das einfach sagen sollen und nicht so ein Drama veranstalten. Wir müssen alle lachen. Weiterlesen
Es ist Juli. Letztes Jahr um diese Zeit waren wir noch im Urlaub im Allgäu. Wir haben einen Ausflug mit der Seilbahn gemacht bei fantastischem Wetter. Die Kinder waren gut gelaunt und Johanna sprachlos vor Staunen über diese riesigen Berge – logisch, denn in Berlin gibt’s sowas nicht. Die pralle Sonne da oben hatten wir natürlich unterschätzt, genau wie die Tatsache, dass es bei solchen Steigungen schon mal anstrengend werden kann, ein Kind im Rollstuhl zu transportieren. Aber es war trotz allem ein rundum gelungener Tag, nur dass wir am Abend recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurden. Johanna klagte über Kopfschmerzen. Mein erster Gedanke war, es war falsch, mit ihr ins so grosser Höhe unterwegs zu sein. Andererseits gibt es Kinder, die trotz Shunt mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen, versuchte ich mich zu beruhigen. Bei all ihren medizinischen Problemen und der Schwere der Erkrankung war es eigentlich immer recht unkompliziert mit ihr unterwegs zu sein. An das Mitschleppen der Medizintechnik hatten wir uns über die Jahre schon gewöhnt, das passierte schon automatisch. Da kann man schon mal "vergessen", dass das Kind einen Shunt hat. Johanna selbst blühte bei solchen Ausflügen immer auf. Sie liebte es draussen zu sein. Gerade die Fahrt mit der Seilbahn war für sie ein unglaubliches Erlebnis und erst die Aussicht, ein Stückchen Himmel zum Greifen nah. Weiterlesen
Jeder Morgen beginnt mit dem Gedanken an Johanna, begleitet mich den ganzen Tag bis ich abends ins Bett falle, meist erst spät in der Nacht. Es fällt mir immer noch schwer einzuschlafen. Zu viel ist anders geworden. Dieser Alltag fühlt sich oft falsch an. So normal. Kein Pflegedienst sitzt nachts in der Küche, das brummende Geräusch des Sauerstoffgerätes fehlt schon lange, so wie das Piepen des Monitors. Als ich anfing zu schreiben, waren unsere Tage ausgefüllt, der Terminplaner quoll über, eine logistische Herausforderung, ein Drahtseilakt. Der tägliche Kampf mit der Erkrankung, das Ringen um ihr Leben, um ihre Chance, trotz allem Kind zu sein, unsere Tochter zu sein und zu bleiben, wie sie war, voller Lebensfreude und schier unerschöpflicher Energie und plötzlich ist alles vorbei. Weiterlesen